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Anna ist Alma. Zumindest seit sie die Biographie von Alma Mahler-Werfel liest. Und das tut sie jetzt schon seit geraumer Zeit. Mir scheint, dass sie das Buch in Wahrheit schon zum zweiten Mal liest, es aber nicht zugibt. Jedenfalls macht sich etwas Männermordendes bei ihr bemerkbar. Anna inszeniert sich neuerdings als Künstlerfresserin. Der Architekt von neulich? Verspeist, verschlissen und ad acta gelegt. Der Musikstudent? Bereits verdaut. Nur bei dem Literaten (der bei irgendeiner Buchmesse hängen geblieben ist) beißt sie sich die Zähne aus. Das mütterliche Musengetue, mit dem sie so gerne die heranwachsenden Genies verwöhnt und letztendlich vergrault hat, perlt an dem jungen Dichter mit dem vielversprechenden Kurzgeschichtenerstling ab wie Aprilregen auf einer Goretex-Jacke. Da hilft es auch nichts, dass Anna, wie sie jetzt gesteht, seit gestern die Biographie von Lou Andreas Salomé verschlingt. Die hätte, so Anna, nämlich genau gewusst, wie man Dichter rettet und gleichzeitig in den Wahnsinn treibt. Der Versuch, nicht mehr als überbordende dralle Alma, sondern als genialische Kindfrau Lou aufzutreten, ist aber, wenn man Annas Erzählungen glauben darf, komplett in die Hosen gegangen. Dem Jungautor, dem dieser Anschlag gilt, fehlt nämlich, wie Anna jetzt resignierend einsehen muss, sowohl die bubenhafte Hingabe des jungen Rilke als auch die väterliche Verzweiflung des reifen Nietzsche. Das junge Genie denkt überhaupt nicht daran, ihr schmachtende Briefe zu schreiben, will nicht schlecht behandelt und schon gar nicht gerettet werden. Ich denke, Annas Tage als Killermuse sind gezählt. Aber ehe ich ihr das sage, schenke ich ihr lieber die neue Madonna-Biographie. derStandard/rondo/25/1/02