Der französische Autor Michel Houellebecq beschreibt Menschen in ihrer garstigen Durchschnittlichkeit - und er versäumt es, sich von ihnen zu distanzieren. Weshalb ihm der Skandal vorauseilt - auch nach Wien. Hier sprach er mit Cornelia Niedermeier. Wien - "Ich formuliere das Leiden der Mittelklasse. Ich bin der Autor des ganz gewöhnlichen Leidens." Dass dieses Leiden, das Michel Houellebecq in seinen Romanen beschreibt, selten schön ist, weder unter ästhetischen noch unter moralischen Gesichtspunkten, verstört manchen, der sich von Literatur noch heute die Hinführung zum Guten, Wahren, Reinen erwartet. Vor allem aber den Autor als letzte Gewissensinstanz in einer Gesellschaft ohne Beichtstuhl. Perfiderweise verweigert ihm Houellebecq beides. Der Westeuropäer: Mangel an Herzensgüte, Interesse an Fernsehen und Sex Der mittelmäßige Westeuropäer, wie er ihn ausmacht und literarisch fixiert, ist in den wenigsten Fällen mit überdurchschnittlicher Herzensgüte begabt. Stattdessen liebt er bekanntermaßen Fernsehen und Sex, geht ansonsten in freudloser Umgebung einem freudlosen Beruf nach. Oder macht Ferien. Bevorzugt organisierte. Wie Michel, der Protagonist seines jüngsten Romans, "Plattform": "Ich liebte die Urlaubskataloge, ihre Abstraktion, ihre Art, Orte aus der ganzen Welt auf eine begrenzte Sequenz von Tarifen und möglichem Glück zu reduzieren; mir gefiel vor allem das Sternchensystem, um die Größe des Glücks anzuzeigen, die man berechtigterweise erwarten durfte." Houellebecq schickt Michel, seines Zeichens Beamter im Kulturministerium, auf Reise - zwischen dem Pauschalglück von "Rum und Salsa" und "Tropic Thai" entscheidet er sich für Thailand. Samt Prostituierter. Houellebecq stürzt sich selbst in den Dreck So weit, so realitätsnah. Unedlerweise versäumt es Houellebecq mit Hingabe, sich von dem Durchschnittsmenschen zu distanzieren. Im Gegenteil. Statt von moralisch unanfechtbarer Position aus den sauberen Zeigefinger auf den Abschaum dieser garstigen Welt zu richten, stürzt er sich selbst in den Dreck. Zumindest hin und wieder, in Interviews. Für die er ebenfalls eine eher laxe Moral bereithält: "Die Antwort hängt immer von dem ab, der fragt. Man darf nie zögern zu lügen und irgendetwas zu antworten, wenn einem die Art der Fragen nicht gefällt." Skandale für die Quotenwelt Der Skandal, den die Quotenwelt benötigt, ist gesichert. Und er eilt ihm voraus auf seiner Lesereise, die ihn am Sonntag auch in den Rabenhof nach Wien brachte. Zumal ihm einige unfreundliche Bemerkungen seines Romanhelden über den Islam (nachdem fundamentalistische Attentäter seine Geliebte getötet hatten), verstärkt durch ein Interview Houellebecqs, in welchem er den Islam als "blödeste Religion" bezeichnet, seine Werte als "zerstörerisch und grausam", eine Strafanzeige eintrugen. Monument des Autors als böser Mann Sexist, Rassist: Das Monument des Autors als böser Mann ist errichtet. Es überschattet ein schriftstellerisches Werk, dessen Skandal an ganz anderem Ort zu suchen ist: in der ungeschönten Wiedergabe einer hässlichen Realität. STANDARD: Herr Houellebecq, liest man Ihr Buch, wundert man sich über die Berichterstattung, die Themen aufgreift, die im Roman selbst eher marginalen Raum einnehmen. Was würden Sie selbst als das Thema Ihres neuen Romans "Plattform" bezeichnen? Houellebecq: Im Grunde ist es eine Liebesgeschichte zwischen Michel und Valérie. käuflicher Sex in einer von ökonomischem Denken geprägten Welt STANDARD: Ihre erste Liebesgeschichte. In Ihren bisherigen Romanen "Ausweitung der Kampfzone" und "Elementarteilchen" schien es so, als wollten Sie Adornos Diktum bestätigen, dass ein richtiges Leben im falschen nicht möglich sei, also auch keine Liebe, höchstens käuflicher Sex in einer von ökonomischem Denken geprägten Welt. Houellebecq: Das ist die Theorie. Nun beweist die Existenz eines Menschen wie Valérie, dass Adornos Satz falsch ist, dass die Realität immer in Widerspruch steht zur Theorie. Massentourismus als Industrie STANDARD: War es Ihre Absicht, Adorno zu widerlegen? Bisher schienen Sie ihm doch eher zuzustimmen: Den Zwängen der kapitalistischen Gesellschaft konnte keiner Ihrer Protagonisten entgehen - und keiner fand darin sein Glück. Houellebecq: Das Merkwürdige ist: Ich erhalte beim Schreiben immer Bücher, die sich vollkommen von meiner ursprünglichen Absicht unterscheiden. Bei "Ausweitung der Kampfzone" wollte ich ausschließlich die Arbeitswelt schildern, das Leben im Büro in all seiner Plattheit. "Plattform" sollte die Sphäre des heutigen Tourismus dokumentieren, des Massentourismus als Industrie. Entsprechende Reaktionen auf Kapitalismus-Kritik bleiben aus STANDARD: Ihre Kapitalismus-Kritik erregt kaum Reaktionen. Diese konzentrieren sich auf die Einstellung Ihres Protagonisten zu Sextourismus und Islam. Houellebecq: Das fehlende Erstaunen der Menschen über das Funktionieren der kapitalistischen Mechanismen wiederum erstaunt mich schon lange. Ich hatte daran gedacht, in "Plattform" einen großen Abschnitt des Buches allein dem Gepäck auf dem Flughafen zu widmen. Die einzelnen Gepäckstücke zu untersuchen, die Details ihrer Fabrikation, ihre Ziele. Das ist der Kapitalismus. Das wäre sehr interessant geworden, vielleicht aber auch viel langweiliger. Lustvolle Angreifen von Tabus der 68er-Generation STANDARD: Sextourismus ist als Thema natürlich spektakulärer. Sie sind ein Provokateur. Auffallend ist, dass es vor allem die Tabus der 68er-Generation sind, die Sie ziemlich lustvoll angreifen. Houellebecq: Ich denke, das kommt daher, dass ich in armen Verhältnissen aufgewachsen bin, und daher habe ich nicht diesen betulichen Respekt vor der Armut und den sozial benachteiligten Menschen. Übrigens auch keinen vor dem Bürgertum. Aber der Respekt vor den Armen ist ja so etwas wie eine stille Übereinkunft der Linken, aus einem Gefühl des schlechten Gewissens heraus. Weil sie immer den - übrigens zutreffenden - Eindruck haben, dass der eigene Status sich einer ursprünglichen Ungerechtigkeit verdankt. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12.02. 2002)