Der deutsche Dichter, Filme- und Fernsehmacher Alexander Kluge feiert heute seinen 70. Geburtstag. Das dazu passende Geschenk für alle: seine Ausführungen zum "unterschätzten Menschen", gemeinsam verfasst mit Oskar Negt.
von Claus Philipp aus Berlin
"Das müssen Sie sich vorstellen: Nachrufe zu Lebzeiten! Zu Übungszwecken!" Nein, es geht nicht um die Geburtstagswünsche, die Alexander Kluge gegenwärtig als Gast der Berlinale entgegennimmt. Wie jedes Jahr sammelt er im Rahmen der Filmfestspiele Interviews für die dctp-Sendungen Prime Time, 10 vor 11 und News and Stories und sprach dabei mit Christoph Schlingensief - über Nachrufe auf denselben: Münchner Theaterwissenschaftsstudenten hatten sie in einem Proseminar verfasst und schön layoutiert - wie im richtigen Leben.
Foto: Tausendundeins Verlag
Philosophische Dialoge als ein "Sich-aufeinander-Einlassen", wie unter "selbstbewussten Facharbeiter": Alexander Kluge (re.) und Oskar Negt.
Chronik der Gefühle Diese Horrorepisode könnte Kluges Chronik der Gefühle entnommen sein - jener gewaltigen Kompilation seiner bisherigen Prosatexte (darunter Lebensläufe und Schlachtbeschreibung), die er im Vorjahr bei Suhrkamp veröffentlichte. Und sie passt erst recht als Bebilderung zu "Der unterschätzte Mensch": Unter diesem Titel sind jüngst bei Zweitausendeins theoretische Texte erschienen, die Kluge gemeinsam mit dem Soziologen Oskar Negt in den vergangenen 28 Jahren erarbeitete - der erste Meilenstein Öffentlichkeit und Erfahrung, das Konvolut Geschichte und Eigensinn, weiters Maßverhältnisse des Politischen und, als konsequente Fortführung der dialogischen Arbeitsmethode: Suchbegriffe - Protokolle von TV-Gesprächen zwischen den beiden Denkern. Sie kommen laut Kluge "dem am nächsten, was uns unmittelbar, aktuell, jetzt zu Beginn des 21. Jahrhunderts, interessiert", tragen also Titel wie "Macht Unglück produktiv?" oder "Man sollte die Gefahr der Rhetorik in politischen Kämpfen nicht übersehen" oder "Öffentlichkeit auf Leben und Tod". Womit wir wieder bei Schlingensief wären - nicht zuletzt formal, denn was diese Gespräche auszeichnet, ist nicht allein eine Ausführung von interessanten Fakten und Gedanken, sondern vielmehr die Montage derselben: die Schnittstellen, an denen das Gedankenmaterial quasi musikalisch zum Klingen kommt. Kluge: "Die Haltung ist wichtiger als der Gedanke?" Negt: "Jedenfalls ist beides untrennbar. Kierkegaard, der ja zunächst Schüler von Hegel in Berlin war, hat das entsprechend kommentiert: Hegel baut sich riesige Systeme auf und wohnt daneben in einer Hundehütte." Erfahrungsaustausch An einem solchen Austausch von Erfahrung (im gedanklichen wie im gelebten Sinn) kann man nicht nur das Denken schärfen, sondern auch das Vertrauen in eigene Intuition - eine unabdingbare Konstante in Kluges Texten und Filmen. "Geschichte, das sind nicht die gedruckten Buchstaben in den Bibliotheken", schrieb er 1979. Also erfand er gemeinsam mit der Schauspielerin Hannelore Hoger die Geschichtslehrerin Gabi Teichert, die unter dem Titel Die Patriotin Neue Deutsche Kinogeschichte schrieb. Heute wird sie im Rahmen einer Berlinale-Gala zu Kluges Ehren endlich wieder einmal auf der Großleinwand jene typischen Such- und Sammelbewegungen vollziehen: Kluge spricht ja auch von sich, wenn er über die "Patriotin" sagt: "In ihren Forschungen befasst sie sich mit Bombenangriffen, mit dem Parteitag der SPD, sie forscht nach der Geschichte der Körper, erlebt eine Kaufhausräumung, gerät in Konflikt mit Vorgesetzten, trifft auf Märchen, prüft das Verhältnis einer Liebesgeschichte zur Geschichte usw., alles das tut sie handgreiflich, praktisch. Sie erprobt Werkzeuge. Wie man Autos oder Holzstücke bearbeitet, das weiß man; wie bearbeitet man die Geschichte unseres schönen Landes?" Kollektive Anstrengungen Wie Gabi Teichert macht sich der Autor auf die Suche nach "anderen Materialien" - auch heute, im Schatten des Terrorkriegs, von dem in "Der unterschätzte Mensch" ein paar beredte Fotos eingeflossen sind: "Brokerin in N.Y., vom Staub übertüncht wie in Herkulaneum und Pompeji." Und wie jeder intelligente Suchende verlässt sich Kluge gern auf kollektive Anstrengungen - in Anlehnung auch an die Frankfurter Schule, zu der er sich mit Negt zählt: "Horkheimer und Adorno arbeiteten in einem Institut oder Netzwerk. Die Dialektik der Aufklärung verfassen sie gemeinsam." Oder: "Es ist spezifisch, dass Walter Benjamin in der Nationalbibliothek in Paris arbeitet, stärker vernetzt als in einem Studierzimmer." Kein Nachruf zu Lebzeiten heute also. Weiterfragen. Weitersuchen: "Was ist das?" - mit diesem ganz typischen, verschwörerisch raunenden Tonfall. Oder: "Wenn Sie mir das jetzt beschreiben könnten?" Denn: Wenn wir es jetzt nicht beschreiben, was ist es dann? (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14.02. 2002)