Von Ingeborg Sperl
Nach der fulminanten Krimitrilogie über sein zerfallendes Heimatland Algerien und seiner Flucht ins Exil nach Paris hat sich der Exoffizier der algerischen Armee, Mohammed Moulessehoul, zwar geoutet, aber sein einst lebensschützendes Schriftstellerpseudonym behalten. Die tragische Hauptfigur von Morituri , Doppelweiß und Herbst der Chimären (alle Haymon Verlag), Kommissar Llob, ist unter den Kugeln eines Attentäters verblutet. Es wurde Zeit für einen Neuanfang und diesmal unternimmt Khadra den schwierigen Versuch, den Werdegang eines Terroristen begreiflich zu machen. Der Beginn schildert bereits das unausweichliche Ende des Nafa Walid: Er hat sich mit seinen teils bereits toten, teils schwer verletzten Kumpanen in einem Haus verschanzt, die Soldaten werden ihn demnächst erschießen. Nafa ist das Kind einer armen Eisenbahnerfamilie aus dem ältesten, malerischen und zerfallenden Viertel Algiers, der Kasbah. Nafa, der Herumtreiber, der zu faul für die Schule ist, meint, dass die Welt ihm etwas schuldet, nämlich eine glänzende Karriere als Filmstar. Dass niemand auf ihn wartet, erfüllt ihn mit Enttäuschung, dann mit Wut: Es gibt für die Jungen sowieso keine Zukunftsperspektive in diesem verrotteten Staatssystem. Dass Nafa kurz eine Anstellung als Chauffeur bei einer reichen Familie findet und deren lasterhaftes Luxusleben mitbekommt, bestätigt ihn in seiner Meinung von der Ungerechtigkeit der Welt. Die einzigen, die sich um ihn kümmern, sind die netten Menschen in sauberen afghanischen Gewändern, die sich als religiöse Lehrer zunächst unmerklich unter die Armen in der Kasbah mischen und so wunderbar mildtätig sind. Sie helfen den Familien der getöteten oder im Gefängnis befindlichen "Kämpfer" und Nafa darf ein bisschen was verdienen, indem er für die frommen Leute ein paar brisante Botenfahrten erledigt. Bei einer Razzia erliegt Nafas alter Vater einem Herzanfall und nun hat Nafa das Gefühl, sich ordentlich rächen zu dürfen. Der erste Mord als Auftragskiller fällt noch ein wenig schwer, aber man gewöhnt sich an den Job. Je besser man killt, desto schneller steigt man in der Hierarchie auf. Khadra beschreibt den Werdegang eines Terroristen, diesen Wust an Frustration, Armut und Aufhetzung ohne Sympathie, er kritisiert die Korruptheit des Staatsapparats genauso wie die Islamisten, von denen er die einen als schlicht dumm und fehlgeleitet, andere wieder als Psychopathen schildert, die sich an Blut aufgeilen, das aus aufgeschlitzten Kehlen spritzt. Wenn es erst einmal möglich ist, darüber zu sprechen, dass man dem Mädchen, das einem da in einem nicht als angemessen erscheinenden Rock entgegenkommt mit dem Schneidbrenner die Beine verbrennen möchte, ist es auch verdienstvoll, die eigene Schwester zu erstechen, weil die an einer Demonstration von Frauenrechtlerinnen teilnimmt. Wenn es normal ist, Frauen aus Dörfern in die Lager der "heiligen Kämpfer" zu verschleppen und sie, sobald sie von den Entführern schwanger sind, einfach umzubringen, fallen ein paar Auftragsmorde auch nicht mehr ins Gewicht. Was hat das alles mit dem oft kolportierten "Aufstand gegen die westlichen Werte" zu tun? Aus Khadras Sicht nichts. Der Albtraum ist hausgemacht. Die Gewalt der Sicherheitskräfte erzeugt notwendig Gegengewalt. Wo alles sinnlos erscheint, ist brachiale Sinnstiftung gefragt. Es sind nicht die reichen Amerikaner, die saturierten Europäer, die das primäre Feindbild der Prediger abgeben, sondern die eigene algerische Oberschicht und die eigene Regierung. Den Werdegang eines Terroristen begreiflich zu machen ist erzähltechnisch und psychologisch nicht ganz einfach. Eine durchgehende Ich-Perspektive erscheint bei einem Autor, der sich immer so dezidiert und mutig gegen den Terrorismus ausgesprochen hat, nicht durchhaltbar, eine Identifikation des Lesers mit der Hauptfigur ist sowieso auf weite Strecken unmöglich. Also versucht es Khadra abwechselnd mit der persönlichen Sicht des Terroristen, dann wieder nimmt er Abstand und den Standpunkt einer berichtenden dritten Person ein. Seine Insiderkenntnisse kommen ihm dabei zugute; es muss angenommen werden, dass wenige von den unfassbaren Ereignissen reine Fiktion sind. Wovon die Wölfe träumen ist ein politisches Buch, das in seiner Romanform wieder einmal mehr begreiflich macht als lange Sachanalysen.
Yasmina Khadra, Wovon die Wölfe träumen. Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe. EURO 20,60/öS 283,46/ 412 Seiten. Aufbau, Berlin 2002.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 23./24. 2. 2002)