EU
Orbán-Aussagen über Benes-Dekrete sorgen für Wirbel unter EU-Aspiranten
Premiers und Kulturminister Tschechiens und der Slowakei sagen Teilnahme an Visegrád-Gipfel ab
Die Äußerungen des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán am letzten Mittwoch in Brüssel zu den Benes-Dekreten schlugen in der Region mächtige Wellen. Der ÖVP-Europaparlamentarierin Ursula Stenzel, auf deren Frage Orbán als Gast eines Ausschusses des Europa-Parlaments geantwortet hatte, mag dieser aus dem Herzen gesprochen habe, als er die Aufhebung der Dekrete beim EU-Beitritt Tschechiens und der Slowakei forderte. In den betroffenen Ländern fand man aber die Ansage, mit der sich nach diesbezüglichen Querelen mit Deutschland und Österreich eine weitere Front eröffnete, nicht gerade passend: Die Ministerpräsidenten Milos Zeman (Tschechien) und Mikulás Dzurinda (Slowakei) sagten ihre Teilnahme an dem für diesen Freitag geplanten Gipfel der Visegrád-Vier in Ungarn ab.
Gemeinsame Haltung gegebenüber Beitrittsverhandlung
Das somit geplatzte Treffen wäre deshalb wichtig gewesen, weil die vier EU-Aspiranten Ungarn, Tschechien, Slowakei und Polen dabei eine gemeinsame Haltung zu brisanten Themen der Beitrittsverhandlungen hätten ausarbeiten können. Alle vier bedrücken nämlich die jüngsten Vorschläge der EU-Kommission zu den Agrarbeihilfen und Strukturförderungen. Bei den Landwirtschaftshilfen sehen die Vorschläge eine Übergangsfrist von zehn Jahren vor, in denen die Brüsseler Zahlungen für die Neuen von 25 Prozent des derzeitigen Niveaus auf das volle Maß angehoben würden. Bis zu den ungarischen Parlamentswahlen im April dürfte die Visegrád-Kooperation nun auf Eis gelegt sein.
Der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses des Parlaments, der den oppositionellen Freidemokraten angehörende István Szent-Iványi, sprach von einem "schlimmen außenpolitischen Misserfolg" Ungarns. Orbán möge seinen "außenpolitischen Amoklauf" beenden.
Szent-Iványi spielte damit nicht nur auf das gespannte Verhältnis mit der Slowakei wegen des umstrittenen ungarischen "Statusgesetzes", sondern auch auf Pannen während des jüngsten USA-Besuches von Orbán an. Dabei war es dem Premier nicht gelungen, von Präsident George W. Bush empfangen zu werden. Dessen Botschafterin in Budapest, Nancy Goodman-Brinker, hatte das Überhandnehmen antisemitischer Töne im öffentlichen Diskurs beanstandet, worauf die von Orbán installierte Rundfunkintendantin Katalin Kondor Frau Goodman-Brinkers Äußerung als "dahergequaktes Zeug" qualifizierte.
Auch Kulturminister Tschechiens und der Slowakei sagen ab
Der Streit um die Benes-Dekrete zwischen Tschechien
und der Slowakei auf einer Seite und Ungarn auf der anderen Seite
ging auch am Montag weiter. Wie der tschechische Rundfunk am Montag meldete, sagten
die Kulturminister Tschechiens und der Slowakei, Pavel Dostal und
Milan Knazko, nach gegenseitiger Absprache die Teilnahme an einem
dreitägigen Ministertreffen der Visegrad-Gruppe (Tschechien,
Slowakei, Polen, Ungarn) in Sopron ab. Das Treffen sollte am 27.
Februar beginnen.
Dostal sagte, es sei absurd, wenn sich die Minister mit der Rolle
nationaler Kulturen im europäischen Integrationsprozess befassen
sollten und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban
gleichzeitig den EU-Beitritt Tschechiens und der Slowakei in Frage
stellte. Orban hatte vergangene Woche die Aufhebung der
Benes-Dekrete gefordert, auf Grund deren die Sudetendeutschen
enteignet und aus der ehemaligen Tschechoslowakei vertrieben worden
waren. Darauf hatten die Ministerpräsidenten Tschechiens und der
Slowakei, Milos Zeman und Mikulas Dzurinda, ihre Teilnahme an dem für
Freitag geplanten Gipfel der Visegrad-Gruppe in Ungarn abgesagt. (Standard-Mitarbeiter Gregor Mayer aus Budapest, Der Standard, Printausgabe, 25.02.02)