Bei der Veranstaltungsreihe "Literatur im März" gastieren unter dem Titel "Frauen - was nun?" Schriftstellerinnen aus aller Welt in der Kunsthalle. Unter ihnen Christine Angot, deren Bekenntnisroman "Inzest" für einen Skandal sorgte.




Foto: Foley Opale
Die französische Autorin Christine Angot exorziert das Drama des Missbrauchs - und wird dafür angefeindet.

Erratum
Im ursprünglichen STANDARD-Bericht über "Literatur im März" wurden versehentlich Lesungen "vorverlegt": Christine Angot liest erst am Donnerstag, 21.00, in der Kunsthalle, Antje Rávic-Strubel hingegen erst Freitags um 17.00 Uhr. Sorry!
Von Cornelia Niedermeier
Wien - Inzest als literarisches Thema ist annähernd so alt wie die Geschichte des Schreibens selbst. Man muss nicht eigens an Ödipus erinnern, selbst das Alte Testament weiß von Lots Töchtern zu berichten, die sich zu ihrem Vater in die Höhle legten. Zumal im sexuell bis zur Abgeklärtheit aufgeklärten 21. Jahrhundert dürfte das Thema kaum für moralische Entrüstung sorgen. Es mag also an der dem Pariser Literaturbetrieb eigenen Begabung zum alljährlichen Skandal liegen, dass im Herbst 1999, dem Jahr nach Michel Houellebecqs Elementarteilchen , just der siebte Roman einer bis dato durchaus unskandalösen Autorin, der 1959 geborenen Christine Angot, Inzest , medienwirksam zum Skandal ausgerufen wurde. Es mag aber auch am ungeschriebenen Gesetz der Literatur liegen, das gebietet, den realen Gehalt der Dichtung durch ein Mindestmaß an poetischer Tarnung zu verrätseln. Fiktionaler Inzest ist Tat als Metapher. Realer Inzest - Verführung Minderjähriger - ist Verbrechen: Ist die schriftliche Offenlegung des zurückliegenden Verbrechens in der Sprache des Opfers per se Opferprosa? Christine Angot weigert sich dezidiert, das poetische Ich der Erzählerin von dem eigenen abzuspalten. Die Parallelen sind biografisch rückzuverfolgen: Als 14-Jährige trifft sie erstmals auf den Vater, dessen Eleganz sie betört. Er beginnt die Jugendliche sexuell zu missbrauchen: sein Fleisch der entfremdeten Tochter einzutätowieren, wie es die deutsche Autorin Dea Loher in ihrem Drama Tätowierung ins blutige Bild fasste. Dem Wahnsinn nahe In Frankreich sorgte Angots Zwang zum Bekenntnis - mehrfach erklärte sie, allein das Schreiben habe sie vor dem Wahnsinn bewahrt - durch ihre mangelnde Schonung realer Personen für Entrüstung. Im Publikumsmagazin Paris Match verstieg man sich gar zu der Meinung, das eigentliche Verbrechen läge nicht im sexuellen Missbrauch an der Autorin, sondern in ihrem Schreiben darüber. Heilige bürgerliche Doppelmoral. Dass man sich im deutschen Sprachraum selbst ein Urteil über das Buch bilden kann, ist dem kleinen Tropen-Verlag in Köln zu danken. Der vielseitig begabte Verleger, Übersetzer und Dramaturg Christian Ruzicska übertrug gemeinsam mit Colette Demoncy den Text, sorgsamst Christine Angots getriebenen Rhythmus nachvollziehend. Der Band erschien im vergangenen Sommer und verkaufte sich auch hier, ohne Skandal, 15.000-mal. Nun erscheint dieser Tage bei Tropen Angots nächstes Buch, gewissermaßen die Fortsetzung von Inzest : Die Stadt verlassen beschreibt die biografische Konsequenz der Enthüllung. Die Aggression in Montpellier, der Stadt, in der sie gelebt hatte, ließ sie ins größere, anonymere Paris ziehen, wo sie heute mit ihrer Tochter lebt. Öffentlicher Mut Weibliches Schreiben als bewusstes Veröffentlichen erlittener Traumata in einer noch heute männerdominierten Gesellschaft - hierin liegt der Skandal Angots. Weshalb die Autorin konsequent auch keinen öffentlichen Auftritt scheute. Am Donnerstagabend um 21 Uhr liest Christine Angot in Wien in der Kunsthalle im Museumsquartier aus ihrem neuen Buch, im Rahmen der Eröffnungsveranstaltung der diesjährigen "Literatur im März", die heuer unter dem Motto Frauen - was nun? die weibliche Seite gegenwärtiger Literatur auszuloten verspricht. Als inzestuöse Suche nach dem Verwandten empfand Christine Angot vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen auch eine drei Monate währende obsessive lesbische Beziehung zu einer Ärztin. Lange problematisiert sie im Buch ihr Hadern mit der gleichgeschlechtlichen Liebe, bevor sie gegen Ende wagt, zum Urtrauma vorzudringen. Mag die homosexuelle Liebe so auch vor den eigentlichen Kern des Buches geschoben sein - dennoch hat Angot hier ebenfalls, in der unüblichen Offenheit, mit der sie über Sex unter Frauen spricht, ein Tabu gebrochen. Wie viel sich in den letzten Jahren hinsichtlich der Anerkennung gleichgeschlechtlicher Liebe gesellschaftlich getan hat, ist in den Romanen der 15 Jahre jüngeren, 1974 in Potsdam geborenen Antje Rávic-Strubel zu erspüren. Beide Romane, die Rávic-Strubel bisher bei dtv veröffentlicht hat, Offene Blende und Unter Schnee , erzählen Liebesbeziehungen unter Frauen mit einer Selbstverständlichkeit, die keines Coming-outs mehr bedarf. In klarer, strenger Prosa, für die sie 2001 beim Klagenfurter Wettlesen mit dem Ernst-Willner-Preis ausgezeichnet wurde, schreibt sie Szenen der Fremdheit, der Unmöglichkeit, ins Innere der anderen vorzudringen. Beide Romane waren ursprünglich als Ost-West-Liebesgeschichten gedacht: In Offene Blende trifft Christiane, die Ostdeutsche, die Staat und Vergangenheit noch vor dem Fall des Vorhangs floh, in New York auf Lea; im kurzen Episodenroman Unter Schnee verbringen Evy und Vera Ferien im tschechischen Schnee. Die äußerliche Fremde jedoch tritt in den Hintergrund vor der grundsätzlichen Unmöglichkeit von Nähe. Fremd bleibt Antje Rávic-Strubel bis heute auch in der Berliner Literaturszene, wenngleich sie seit Jahren in Berlin lebt. Die Popliteratur in ihrer Widerspiegelung medialer Welten ist ihr fremd geblieben. Geradezu altmodisch wirkt ihre unsentimentale Ernsthaftigkeit im hektischen Trubel der Wiedervereinigungshauptstadt. In Wien ist Antje Rávic-Strubel dieser Tage gleich doppelt zu hören: Am Freitag (17 Uhr) bei "Literatur im März" und am 11. (19 Uhr) in der Alten Schmiede, wo sie über ihre Erfahrungen als Teilnehmerin des Klagenfurter Literaturkurses spricht. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 6. 3. 2002; korrigiert)