Ernest Dichter lebt. Zehn Jahre nach dem Tod des Vaters der Motivationsforschung gehören seine Thesen genauso zum Instrumentarium des Verkaufens und Überzeugens wie zuvor. Ein Auszug aus einer vielstimmigen Hommage in Buchform. "Die Dinge haben eine Seele" ist einer der Kernsätze von Ernest Dichter, dem Mann, der die angewandte Motivationsforschung praktisch erfunden hat. 1907 in Wien geboren, kam Dichter 1938 als Flüchtling in die USA und gründete acht Jahre später das Institute for Motivation Research, das mit seinen Untersuchungen u.a. für Chrysler, Esso, Procter & Gamble berühmt wurde. Der selbsternannte "Mr. Mass Motivation" war eines der Angriffsziele in Vance Packards Anti-Werbung-Klassiker "Die geheimen Verführer". Dichter starb 1991 in Peekskill, New York. Gespräch über Ernest Dicher - Franz Kreuzer und Patrick Schierholz Dass Objekte animiert sind, dieser Gedanke steht auch am Beginn einer Hommage, die Bewunderer, Mitarbeiter, Nachfahren und nicht zuletzt seine Frau und jahrzehntelange Weggefährtin Hedy Dichter über den "Österreicher als Werbeguru" zusammengestellt haben. Eines der Gespräche über Ernest Dichter drucken wir hier auszugsweise ab: zwischen dem Publizisten, TV-Journalisten und (von 1985-87) Gesundheits- und Umweltminister Franz Kreuzer und dem Kreativdirektor und Werbeagenturchef Patrick Schierholz: Kreuzer: Es geht mir vorerst darum, Ernest Dichters Platz in seinem Fach zu erörtern. Hat er die Motivforschung wirklich entdeckt oder erfunden, oder war so etwas eigentlich immer schon da? Sie haben mir schon im Vorgespräch gesagt, Religionsgemeinschaften haben das immer schon gehandhabt und die politische Propaganda auch. Schierholz: Es gibt Erkenntnisse, nach welchen Motiven Menschen handeln, von verschiedensten Psychologen, unter anderem natürlich auch von Freud, der weit in die Tiefe gegangen ist - Tiefenpsychologie. Dichter hat das Wesentliche heraus gearbeitet, auf die Anwendung hin bezogen. Kreuzer: Als Freud-Schüler. Schierholz: Das weiß ich nicht so genau. Er hat jedenfalls das Wissen aus der Psychologie der menschlichen Handlungsweisen im Zeitalter der Industrialisierung, vor allem in der nach dem Zweiten Weltkrieg folgenden Entwicklung in Massenproduktion, des Marketing sowie des Verkaufs in großen Mengen durchleuchtet. Das älteste Buch, das ich von ihm kenne, ist das "Handbuch der Kaufmotive", sicherlich ein richtungsgebendes Werk. Kreuzer: Das war eines seiner ersten Bücher, ja. Das hat er nach seinem praktischen Erfolg geschrieben. Schierholz: Das "Handbuch der Kaufmotive" ist ja nichts anderes als die umfassende Sichtung der psychologischen Erkenntnisse. Er hat sie geordnet und zusammengefasst. Es ist wirklich ein Handbuch, in dem man nachschlagen kann, in dem drin steht, wenn du etwas verkaufen willst, dann musst du folgende Regeln beachten, weil die Menschen nach diesen Motiven handeln. Kreuzer: Also, um auf unser Motto einzugehen. Die Einsicht war schon vorher da. Wenn du als Angler einen Fisch fangen willst, dann muss der Köder dem Fisch schmecken und nicht dem Angler. Schierholz: Richtig. Basiswissen, auf dem Ernest Dichter aufgebaut hat. Wie schon erwähnt: Die katholische Kirche hat sich ja auch sehr mit den Motiven der Menschen beschäftigt, nicht aus reiner Menschenliebe, sondern aus Interessen, aus zum Teil kommerziellen Interessen, aus Macht-Interessen. Die Kirche hat zweitausend Jahre lang angewandte Motivforschung betrieben. Sie hat etwa ganz pragmatisch wesentliche Institutionen für sich beansprucht. Da war zum Beispiel das Zeitmonopol - alle haben auf den Kir rm schauen müssen, um die Uhrzeit zu erfahren. Wehrkirchen hatten militärischen Nutzen. Im Rahmen des Glaubens und der Lehre sind Angst und Hoffnung instrumentalisiert worden, um Menschen zu leiten. Kreuzer: Damit wir der katholischen Kirche nicht zu viel Gutes oder Schlechtes nachsagen - das tun eigentlich alle Religionen. Das haben auch schon die Schamanen und die Häuptlinge gemacht. Schierholz: Und mit ihnen das ganze Instrumentarium der Macht durch Häuptlinge, Könige. Kreuzer: Nochmals zur Erkenntnis: Der Köder muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler. Schierholz: Da kommt eine raffinierte Zusatzüberlegung dazu: Man kann den Köder auch in heimtückischer Weise zu groß machen - und doch Erfolg haben. Kreuzer: Wie geht das? Schierholz: Die Regel heißt: Stell das Cabrio ins Fenster, wenn du die Limousine verkaufen willst. Der Käufer wandert um dieses Cabrio herum, das zwei Ledersitze hat, irrsinnig viel Chromzierrat, und wahnwitzig teuer ist. Dann denkt er daran, dass er drei Kinder hat, was er verdient, und das Cabrio verändert sich sozusagen in seinem Kaufentscheid immer mehr. Dann sieht er die Limousine dieses Cabrios in einer spärlicheren Ausstattung, die dann wesentlich weniger kostet, aber wesentlich praktischer ist - und kauft! Wenn die Limousine im Fenster gestanden wäre, wäre der Mann nie ins Geschäft gekommen. Angelockt hat ihn das Cabrio. Der Köder ist das Cabrio, das viel zu groß ist, um es zu schlucken - er schluckt dann letztlich das, was er verdauen kann. Und das hat dann eben Dichter herausgearbeitet, wobei, wenn man es liest, ein Aha!-Effekt entsteht. Man braucht die Lehre nur auf andere Lebenssituationen zu übertragen. Kreuzer: Das ist ja typisch für Dichter - übrigens auch für andere einfach denkende Innovatoren. Was ist besser als eine Rasierklinge? - Antwort: zwei Rasierklingen. Das weiß ja jeder Mensch. Aber wer es als erster produziert, ist ein Milliardär. Schierholz: Unterbewusst glaubt man natürlich, vieles zu wissen. Dichter hat das, wie gesagt, in Zusammenhänge gebracht, katalogisiert, kategorisiert und dadurch anwendbar gemacht. Ein Beispiel: Im Mittelalter gab's noch kein Coca Cola. Aber im Mittelalter gab's eine kleine Gasse und einen Gemüsehändler oder Krämer, und der hat eine kleine Tafel gehabt, und da hat er mit Kreide drauf geschrieben: "Heute Bohnen". Und gegenüber war der zweite Krämer und der hat hingeschrieben: "Heute frische Bohnen". Und damit hat er schon angefangen mit der Werbung. Denn: "Heute Bohnen" ist sozusagen nur die rationale Grundaussage: er hat Bohnen. Und wenn jetzt eine mittelalterliche Hausfrau in der Straßenmitte stand, dann ist sie wahrscheinlich vom Frischegedanken angelockt zu dem Händler gegangen mit der Tafel "Heute frische Bohnen". Und das war ja im Prinzip schon Werbung. Wir reden heute von Massenkommunikation und die Regeln sind natürlich verfeinert worden, aber sie sind kein Geheimnis. (...) Kreuzer: Ich komme zur Frage einer moralischen Bewertung der Werbung. Ernest Dichter teilt seine eigene Lebensarbeit in A-Produkte und B-Produkte. A-Produkte sind Ihnen nicht unbekannt, eines davon hat uns zusammengeführt: Die Propagierung des Autos mit Katalysator. Also A-Produkte für die Öffentlichkeit und B-Produkte fürs Geschäft, fürs Geldverdienen. Ich frage jetzt gegen den Strich: muss jeder Staatsauftrag ein moralisch positiver sein? Wenn also die tschechische Republik Werbung für ihr Atomkraft macht, dann muss ihr Anliegen ja nicht unbedingt von höchster Moralität erfüllt sein. Und umgekehrt: es kann ja eine gute kommerzielle Werbung durchaus arbeitsteilig oder funktionsteilig in der Marktwirtschaft eine positive Aufgabe erfüllen. Schierholz: Die Frage ist: um welche Moral geht es? Nehmen wir mal Temelin, dann kann durchaus eine Regierung eine Kampagne machen, um für Verständnis zu werben und kann versuchen, die Öffentlichkeit zu informieren. "Informieren" in Anführungszeichen, weil sie versucht ist, nur positive Seiten zu schildern. Kreuzer: Also zu desinformieren. Schierholz: Bis zu einem gewissen Grad das Negative wegzulassen und damit auch zu desinformieren. Das ist richtig. Das ist aber eine Frage des Standpunktes - wie in jeder parlamentarischen Demokratie. Der eine vertritt diesen Standpunkt und wird versuchen, seinen Standpunkt anzupreisen, Widerstand oder Widerspruch zu entkräften. Er wird sicher nicht, wenn er etwas anpreist oder für eine Sache steht, alle negativen Aspekte aufzählen. Und so ähnlich verhält es sich auch in der Werbung. Auf der anderen Seite gibt es auch Vorstellungswelten, die künstlich aufgebaut werden und die man vordergründig für hochmoralisch halten würde. Etwa die Sicherheit beim Automobil. Tatsache ist, dass hier vorausgesetzt wird, dass die Leute sich wahnwitzig verhalten, in Autos, die dafür gebaut sind. Kreuzer: Man müsste ja keine Autos bauen, die so schnell fahren. Schierholz: Das gibt aber Dissonanz, also baut man das Auto voll mit Airbags, die aus jedem Winkel schießen. Inzwischen gibt es Autos mit sechzehn Airbags, mit Knautschzonen. Vergleichbar im übertragenen Sinne wäre das, wenn man als Fußgänger nicht das Haus verlassen würde, ohne vorher einen Helm aufzusetzen, Ärmelschoner, Knieschoner, ein Sitzkissen auf den Hintern schnallen, und noch zehn andere Vorrichtungen für den Fall, dass man ausrutscht, anstößt oder die Treppe runterfällt. Aber die Öffentlichkeit hat das nun mal akzeptiert, und jetzt macht man Airbag-Werbung. (...) Kreuzer: Friedrich von Hayek hat die pro-marktwirtschaftliche Fundamental-These entwickelt, dass die Reichen immer die "Vorkoster" der Armen sind. Ohne die Reichen gebe es kein Telefon, kein Badezimmer, kein Auto und keinen üblichen Lebenskomfort. Schierholz: Bis zu einem gewissen Grad stimmt das, aber in der modernen Gesellschaft hat sich das schon stark verändert, weil Leute sich auch mit geringerem Einkommen Freiräume schaffen, indem sie bewusst auf gewisse Dinge verzichten: Das wollen sie gar nicht. Und sie bekennen sich auch dazu. Jemand gibt nie Geld für Kleidung aus, da sagt jeder: der ist immer so komisch und billig angezogen. Dafür macht er immer Luxus-Urlaubsreisen oder hat eine irr teure Stereo-Anlage. Also früher hat man versucht, sozusagen in einem anerkannten Niveau zu leben, und heute lebt man gleichzeitig auf mehreren Niveaus. (...) Kreuzer: Wir wollen nicht kritisch, wohl aber kritikbewusst enden - eingedenk der Tatsache, dass Ernest Dichter erst so richtig durch das kritische Erfolgsbuch von Vance Packard berühmt geworden ist. Wir haben da wirklich einen viel diskutierten Bestseller, verfasst von Frédéric Beigbeder, einem Dissidenten der Werbebranche (kann auch ein Verkaufstrick sein), mit dem skurrilen Titel "39.90", das ist der Buchpreis. Das alles als Roman dargeboten. Ich zitiere nur einige Kernsätze: "Ich bin Werber, also Umweltverschmutzer. Ich bin der Typ, der Scheiße verkauft. Der Sie von Sachen träumen lässt, die Sie nie haben werden." (...) Keine Frage, dass das Buch in allgemeine globalisierungsfeindliche, grün-politische und überhaupt neo-linke Themen führt: "Der Kapitalismus hat den Kommunismus überlebt. Jetzt kann er sich nur noch selber auffressen." Schierholz: Namhafte Ärzte stehen auf und prangern ihren Berufsstand an, Kollegen als geldgierige Chaoten und Pfuscher, die sich mit den Leiden der Menschen Villen und Yachten kaufen. Anwälte, Richter, Top-Manager haben das schon gemacht, warum also nicht auch Werber? Ganz nebenbei, er ist nicht der Erste, sondern der derzeit aktuelle. Hier geht ja niemand still ins Kloster und flüstert: "Mein Gott, ich habe gesündigt!" Herr Beigbeder hat in seinem Beruf gelernt, eine Produktidee gehabt und vermarktet sie jetzt perfekt. Er ist "der Typ, der Ihnen Scheiße verkauft", der reich und berühmt wird, zu Talkshows eingeladen wird und auf alle schicken Partys. Die andere Seite: Ja, im Kern beschreibt er eine Branche, an der die Menschen jetzt sehr interessiert sind. Zu Dichters Zeiten war die Werbebranche völlig anonym, David Ogilvy's Klassiker "Confessions of an advertising man" kennen nur Insider, seit einigen Jahren werden Werber kleine Medienstars, also wird so ein Buch ein Bestseller, bei aller plakativer Überzeichnung: Es ist wahr: Natürlich erzeugt man Bedürfnisse, auch über Neid, Leid, Unzufriedenheit. Eine kleine Geschichte über das Wesen eines guten Werbetextes geht so: Ein Blinder sitzt im Mai beim Central Park und hat ein Schild neben sich: "Bitte um eine Gabe, ich bin blind!" Da kommt ein Werbetexter vorbei und malt ihm ein neues Schild: "Es ist Frühling und ich kann nicht sehen!" Was ist das nun: Romantisch, kreativ oder hinterlistig? Es kommt letztlich immer darauf an, wie man etwas von welchem Standpunkt aus betrachten will. Unser Werbetexter, der dem Blinden hilft, ist doch sehr romantisch veranlagt! Seine Vorgangsweise ist aber auch extrem hinterlistig, wie er den Menschen das Kleingeld aus der Tasche zieht. (...) Wenn der trend schreibt, Werbung sei das härteste, schönste, schmutzigste, eleganteste, schlechteste, beste Geschäft der Welt, so ist das vor allem ein tolles Beispiel für eine recyclefähige Schlagzeile. Sie können Werbung beliebig gegen Privatfernsehen, Formel 1, Sex, Internet, Schönheitschirurgie tauschen - funktioniert immer bestens. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, ALBUM)