Von Ingeborg Sperl
Ein spanischer Nationalpark bildet die Kulisse für einen Krimi, der als Antithese zum urbanen Beziehungsgewimmel aufgebaut ist. In der ländlichen Gegend der Estremadura funktioniert das soziale Langzeitgedächtnis noch. Die Leute werden von alten Geschichten ihrer Familien getrennt oder aneinander gekettet, Geschichten, die einem Außenstehenden unbekannt sind. Andere unsichtbare Grenzen verlaufen zwischen den traditionell Wohlhabenden und den Habenichtsen. Der Starrsinn einer uralten Grundbesitzerin, die seit Jahrzehnten gegen ein ihr zugefügtes Unrecht kämpft, bewirkt ungeahnte Komplikationen. Auch zwischen der Toten, einer Künstlerin und der misstraurischen und bei Bedarf brutal grausamen ländlichen Bevölkerung könnten die Gegensätze nicht größer sein. Ricardo Cupido ist eine ziemlich verkrachte Existenz, der vom Freund der Ermordeten, einem Anwalt, angeheuert wird, um Licht in den mysteriösen Fall zu bringen. Er hat viel Geduld und Zeit zum Philosophieren und Spazierengehen; seine menschenfreundliche Art bringt die Leute dazu, sich zu entblößen, in seine harmlos scheinenden Fallen zu tappen. Nicht nur der Wildhüter des Nationalparks erweist sich schließlich als Fuchs im Hühnerstall, auch andere unverdächtig scheinende Protagonisten entpuppen sich als janusköpfig. Irgendwie passt hier das Klischee vom sonnigen, leichtlebigen Süden überhaupt nicht, und das ist gut so.
Eugenio Fuentes, Mörderwald: Aus dem Spanischen von Svenja Becker. EURO 20,10/415 Seiten. Klett Cotta, Stuttgart 2002.
Es war einmal eine Szene-Sängerin, eine exhibitionistische Selbstdarstellerin, die ihr Charisma überstrapazierte. Und als sie, drogensüchtig und abgewrackt, nicht mehr für ihre beiden kleinen Söhne sorgen konnte, ließ sie die Kinder bei Pflegeeltern und tauchte nie mehr auf. Der jüngere Sohn, ein aggressiver Krimineller, wird ermordet. Der Streifenpolizist, der die Leiche findet, ist ausgerechnet der ältere Bruder, Dorian. Paprottas Ermittler haben ein mehr als fragiles Innenleben. Ina Henkel von der Mordkommission ist einmal von einer Verrückten eingeschlossen und mit dem Tod bedroht worden. Seitdem ist sie etwas aus dem seelischen Gleichgewicht geraten, außerdem fürchtet sie sich vor Leichen. Und Dorian, der junge Polizist, der mit Ina Streife fährt, hat sein Schicksal als verlassenes Kind nie bewältigt. Er bricht zusammen, als er die Leiche seines jüngeren Bruders entdeckt und hat das Gefühl, dass die finstere Psyche des Toten von ihm Besitz ergreift. Der Ansatz, dass Polizisten mindestens ebenso psychisch beeinträchtigt sind wie die Täter, ja, dass mitunter die Verhältnisse sich umkehren können, wird hier überzeugend ausgemalt. Ohne Schnoddrigkeit, nur manchmal ein wenig zu ausschweifend erzählt, präsentiert sich Sterntaucher als origineller Krimi über Verdrängungen und die erstaunlichen Möglichkeiten, mit einer Lebenslüge zu vegetieren.
Astrid Paprotta, Sterntaucher. EURO 20,50/406 Seiten. Eichborn, Frankfurt am Main 2002.
Der Fall ist nicht gerade ungewöhnlich im "neuen Russland". Ein reicher Lebemann wird vor seinem Haus erschossen. Ein Auftragskiller, so scheint es, hat Gleb Kalaschnikow, Mitbesitzer eines Kasinos und Teilhaber eines Paten, gezielt umgebracht. Russische Gauner sind ein Staat im Staate. Sie kaufen sich Politiker, machen ihre eigenen Gesetze und sie operieren international. Die Opfer von Gewalttaten wissen, dass sie von den ermittelnden Behörden wenig zu erwarten haben. Dem gemäß folgerichtig sind Daschkowas Helden auch nicht irgendwelche braven Polizisten, die einerseits gegen das Verbrechen und andererseits gegen die Verkommenheit in den eigenen Reihen kämpfen, sondern Privatpersonen mit höchst unterschiedlichen Interessen. Die Primaballerina Katja, die jahrelang den unappetitlichen Amouren ihres Mannes Gleb gleichgültig zugesehen hat, glaubt aber nicht daran, dass eines der zahlreichen Betthäschen ihres Mannes die Wahnsinnstat begangen hat. Die verdächtigte Olga wird nämlich allzusehr auf dem Präsentiertablett serviert und Katja fallen etliche Ungereimtheiten auf. Richtig bösartig entwickelt sich die private Jagd erst, als es um die Aufteilung des Erbes geht, bei dem auch etliche Paten ein Wörtchen mitzureden haben. Wo es an allem fehlt, geht auch die Moral vor die Hunde: ein düsteres Sittengemälde ohne Aussicht auf Besserung der Verhältnisse.
Polina Daschkowa, Club Kalaschnikow. Aus dem Russischen von Margret Fieseler. EURO 20,60/445 Seiten. Aufbau-Verlag, Berlin 2002.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 30./31.3. / 1.4. 2002)