Warum die begehrte Verankerung des Sozialstaates in der Verfassung trotz - oder gerade wegen der generellen Schwächen derartiger "Staatsziel-bestimmungen" Sinn macht. Drei Feststellungen zu den sozialen Anliegen der Volksbegehrer vor dem Hintergrund des rechtlichen Istzustandes in Österreich vorweg: 1. Gegensatz zu vielen europäischen Ländern enthält die Bundesverfassung bis heute keine sozialstaatliche Garantie, obwohl der Sozialstaat auf einfachgesetzlicher Ebene in Österreich einen hohen Rang einnimmt. 2. Diese Diskrepanz spiegelt sich auch in einem Ungleichgewicht in der Verfassung selbst: Das liberale Prinzip genießt höchste Priorität und wird durch den "bürgerlichen Rechtsstaat" wirkungsvoll - auch gegenüber dem Gesetzgeber - geschützt. Das soziale Prinzip im Sinne einer staatlich gewährleisteten Solidarität der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung bleibt hingegen der jeweiligen Regierungspolitik überlassen. 3. Faktum ist, dass seit dem Neutralitätsgesetz eine Vielzahl von Staatszielbestimmungen verfassungsrechtlich verankert wurde, wie etwa die umfassende Landesverteidigung, der umfassende Umweltschutz, der Rundfunk als Staatsaufgabe, der Abbau von Diskriminierungen von Frauen und Behinderten. Und dass damit auch eine Änderung der Verfassungsrechtsprechung einherging, indem man begann, derartige Staatszielbestimmungen - ähnlich wie die Grundrechte - als inhaltliche Maßstäbe für das einfache Gesetzesrecht anzuwenden. Staatszielbestimmungen ermöglichen also eine verfassungsmäßige Kontrolle bei der Planung von Gesetzen und Verordnungen und binden die Abwägung zwischen öffentlichen und privaten Interessen bei gesetzlichen Ermächtigungen, Ausnahmegenehmigungen u. Ä. Das Gleiche gilt grundsätzlich auch für die Budgethoheit und die Verwaltung von Fördergeldern, wiewohl hier eine gerichtliche Durchsetzung - mangels entsprechender Rechtsansprüche - kaum möglich ist. Genau darin liegt die generelle Schwäche von Staatszielbestimmungen: Wirksam werden diese für den Bürger erst in Verbindung mit einer entsprechenden Gesetzgebung. Die Schwäche dieser Rechtstechnik ist aber zugleich auch ihre spezifische Stärke: Staatszielbestimmungen sind "elastischer" und gegenüber der (politischen) Konkretisierung durch den Gesetzgeber offener als ein Grundrecht, das nur - sehr begrenzt - durch die Verfassungsrechtsprechung "dynamisiert" werden kann. Ist damit die zentrale Frage, ob die freiheitliche Verfassung überhaupt geeignet ist, soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Solidarität in der Weise zu verbürgen, wie sich die Betreiber des Volksbegehrens vorstellen, hinlänglich beantwortet? Zwei Einschränkungen müssen jedenfalls noch gemacht werden: Die Verfassung kann nicht die Strukturen der Marktwirtschaft, der Europäischen Integration und der Globalisierung aufheben und daher auch nicht die wirtschaftlichen Voraussetzungen einer erfolgreichen Sozialpolitik herstellen oder auch nur entscheidend beeinflussen. Und: Das Volksbegehren muss nach unserer Rechtsordnung die parlamentarische Mehrheit für eine Verfassungsänderung erreichen; eine direkte Volksgesetzgebung (wie etwa in der Schweiz) ist in Österreich nicht zulässig. Ich halte jedoch beide Vorbehalte nicht für Argumente gegen, sondern für die Sinnhaftigkeit des Sozialstaatsvolksbegehrens: Die Zusammenhänge zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und aktiver Sozialpolitik müssen immer wieder neu öffentlich thematisiert und politisch geordnet werden. Und die Suche nach einem breiten parteipolitischen Konsens über den Sozialstaat wird dessen unaufhebbaren Kernbestand, aber auch die aktuellen Schranken durch die von Österreich nicht beeinflussbaren Strukturen ins gesellschaftliche Bewusstsein heben. DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 4.4.2002