Der japanische Großmeister der Noise-Musik, der 46-jährige Masami Akita alias Merzbow, stellt in der Wiener Kunsthalle über 70 Stunden lang sein Opus magnum, die 50 CDs umfassende "Merzbox" live vor. Heiliger Lärm zwischen Surrealismus und Selbstreinigung. Wien - Der ästhetische Triumph des Noise-Musikers ist die Unhörbarkeit. Erst wer sein Publikum zur Saalflucht treibt, hat gewonnen. Es geht um heiligen Lärm. Hier werden Kathedralen aus Rückkoppelungen und weißem Rauschen errichtet, gegen die Sturzwellen branden. Dröhnen, Wummern, Tosen. Schmerzensschreie aus Ring-modulatoren und aus schrottreifen Casio-Keyboards. Mit Kontaktmikrofon, Theremin und diversen pensionsreifen Kassettenrekordern inszenierte Lowtech-Selbstreinigungsrituale, die erst möglich werden, wenn man sich ganz im Grauen versenkt. Auf das menschliche Grundrecht auf Ruhe muss grundsätzlich verzichtet werden. Wenn man im Konzert taub wird, hört man schließlich eh nichts mehr. Beklemmung stellt sich ein. Man darf diese Musik Anrainerbeschwerde nennen. Hörsturz Und doch, wer bereit ist, dies alles zu ertragen, besser noch, wer sich tatsächlich auf dieses grausame Spiel einer Bestrafung für etwas, das man möglicherweise gar nicht begangen hat, einlässt, wird in diesem Inferno nicht nur eine tiefe Musikalität finden, die zwar gewohnte Hörgewohnheiten Richtung Hörsturz zu pulverisieren in der Lage ist. Irgendwo in dieser auf Wahnsinn beruhenden Unternehmung Merzbow aber, die Masami Akita nun seit Ende der 70er-Jahre auf einer unüberschaubaren Flut von über 100 Tonträgern betreibt, finden sich durchaus auch Momente großer Schönheit und Erhabenheit: Hören mit Schmerzen. Masami Akita: "In meiner Arbeit gibt es zwischen Musik und Lärm keinen Unterschied. Ich weiß nicht einmal, was mit diesen Begriffen bezeichnet werden soll. Wenn Noise etwas Unangenehmes bedeuten sollte, ist für mich Popmusik der reine Lärm." Merzbows Kunst ist radikal im ursprünglichsten Sinn. Deshalb beruht sein musikalisches Konzept einerseits auf dem Surrealismus, den er als bildender Künstler ebenso studierte, wie er andererseits nicht nur mit seinem Künstlernamen auf den Merzbau des Dadaisten Kurt Schwitters verweist. Stichwort auch: dessen lautmalerische Ursonate. "Ich wollte immer schon zutiefst surrealistische Musik auf dezidiert nicht musikalische Art und Weise komponieren. Surrealismus verhandelt das Unterbewusste. Lärm ist das primitive wie kollektive Bewusstsein der Musik. Von Schwitters wiederum habe ich die Collagen-Technik. Er sammelte Fundstücke von der Straße und setzte sie zum Merzbau zusammen, so wie ich Sound aus dem Abfall generiere, der mein Leben umgibt, defekte Tape-Decks, kaputte Verstärker. Ich dachte immer, dass eine geheime Stimme aus dem Equipment selbst ertönen würde, wenn ich die Kontrolle darüber freiwillig aufgeben würde. Das ist der Sound des Unterbewusstseins, die Libido meiner Gerätschaft. Die größte Idee des Surrealismus ist jene, dass alles im Leben erotisch kodiert ist. Lärm ist die erotischste Form von Sound. Deshalb beziehen sich alle meine Arbeiten auf Erotik." Praktisch bedeutet das Arbeiten mit Titeln wie Music For Bondage Performance oder Rectal Anarchy , dementsprechend deftige Performances und ein in der Musikwelt unvergleichliches Lebenswerk, das jetzt mit der 50-teiligen CD-Anthologie Merzbox live präsentiert wird. Wer bei diesem Event am längsten durchhält, kann übrigens eine Reise für zwei Personen nach Transsylvanien gewinnen. Kein Witz! Ein Honeymoon in der Hölle der absolut reizlosen Industrielandschaft von Copsa Mica. Bondage up yours! (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4. 4. 2002)