Man vergisst ja viel zu schnell. Vor allem Figuren wie den Prediger. Und jedes Mal, wenn er mich erwischt, bin ich baff, wieso ich überrascht sein kann. Und zwar davon, dass es Figuren wie ihn überhaupt gibt. Weil Leute wie der Prediger doch eigentlich so etwas wie die Würze des öffentlichen Lebens einer - jeder - Stadt sind. Der Prediger ist ein nicht mehr junger Mann. Er ist aber auch nicht alt. Er ist - irgendwie - ohne Alter. Er hat auch kein Äußeres. Keines, das man später noch beschreiben könnte. Phantombildzeichner wären arme Hunde: Mittelgroß, Mantel, Hut, unmodische Brille. Haare? Vorhanden. Farbe? Mittelblond. Braun. Vermutlich. Kein Bart, keine besonderen Kennzeichen. Oder doch? Doch: Das Buch. Schließlich ist der Prediger Prediger. So einer hat ein Buch. Das Buch. Aber dass er das in der Hand hält, fällt erst auf, wenn der Prediger bereits predigt. Und wenn man sich ohnehin daran erinnert, ihm schon früher begegnet zu sein. An den unmöglichsten Orten und zu den unmöglichsten Zeiten. In letzter Zeit hat er halt auslassen. Bis dann vergangene Woche seine Stimme wieder da war. Wie immer unerwartet. Wie immer unverkennbar. Und wie immer von hinten. Diesmal in der Straßenbahn. "Gutän Tag meine Damän und Härrän", legt der Prediger mit schwerem ungarischen Akzent los – und kommt gleich zur Sache: "Lesän Sie das neuä Tästamänt! Kährät um! Bereuät! Lesän Sie die Bibä!" Dazu drängt sich der mittelgroße, mittelalte Mann durch die Reihen. In der rechten Hand eine rote, leicht ramponierte Bibel, in der anderen ein Kruzifix. Voreheliches Furioso "Bekännät Eurä Sündän." Spätestens hier entdeckt der Prediger, was er sucht: Ein Pärchen. "Säx vor der Ähä ist eine Todsündä", plärrt er – und steigert sich in ein Furioso wider den vorehelichen Geschlechtsverkehr, das fast wieder lustig ist. Bloß nicht für die "Ertappten": Denen folgt er brüllend, bibel- und kreuzschwingend manchmal bis sie in einem Taxi oder einem anderen für den Prediger nicht betretbaren Asyl Zuflucht finden. Vergangene Woche habe ich ihn - nach langer Zeit – wieder erlebt. Und zum ersten Mal hat es ihm in meiner Gegenwart die Sprache verschlagen: Das Paar das er anbrüllte, küsste seelenruhig fertig. "Na gut", kam dann, "dann bitten wir Dich hier und jetzt um Deinen Segen Vater." Der Prediger schnappte nach Luft. Beinahe wäre er umgekippt: In seinem Rasen hatte er glatt übersehen, dass er gerade versucht hatte, zwei Männer vor den Altar zu zitieren. NACHLESE --> Das Ende der Stadt --> Die Wiese --> Durch die Blume --> Der Aidsstecher --> Drei ist mehr als sechs und kleinlich --> Wenn Werber weinen --> Der Wichser --> Ausgerechnet Curling --> Fahrraddiebe --> Der Leuchtturm --> Luftgitarren-Weltmeisterschaft --> Kleine grüne Türen --> Lebensschule Supermarkt --> Der Gorilla und der Putztrupp --> Der Taubenverhafter --> Nachweihnachts - Krawattenblues --> Freude mit Pflanzen --> Den Euro lieben lernen --> Weitere Stadtgeschichten...