Kunst und Kultur
Das vokale Naturereignis
Dee Dee Bridgewater mit neuem Kurt-Weill-Programm im Wiener Konzerthaus
Wien Sie brach am Sonntagabend über das Wiener Konzerthaus herein wie ein Naturereignis. Wild gestikulierend, tanzend, zähnefletschend, über ihren Exgatten
ebenso zwanglos plaudernd
wie über das notorische Problem der Pausenschlangen vor
Damen-WCs - und, ja, auch
singend, besser: Songs zu
plastischen Mini-Dramen
formend.
Dass das jugendhafte Energiebündel auf der Bühne, das
sich sichtlich in der Rolle des
schlimmen kleinen Mädchens
gefiel, Ende dieses Monats
ganze 52 Lenze zählen wird,
das schien hier gewisse biologische Grundprinzipien auf
den Kopf zu stellen. Tatsächlich erwies sich Dee Dee
Bridge_water in diesem denkwürdigen Konzert einmal
mehr als beste und glaubwürdigste Performerin unter den
neuen Primadonnen des Vokaljazz wie auch als dessen
extrovertierteste und emotionalste Exponentin.
Bridgewater - mittlerweile
bemüht, die Punzierung als
Ella-Fitzgerald-Erbin, die ihr
seit der "Dear Ella"-Hommage
1997 aufgeprägt wird, wieder
abzuschütteln - füllt jede einzelne Note mit prallem, vollem Leben. Ihr Vortrag: pure
Intensität.Elektrisierender Kurt Weill
Dass man Kurt Weills Lieder, denen sie sich im aktuellen, bereits auf CD nachzuhörenden Programm "This Is New"
(kürzlich erschienen bei Universal) angenommen hat,
hierzulande eher in distanziert-kühler Brechung zu vernehmen pflegt - was kümmert
es die langjährige Wahl-Pariserin mit Schauspiel- und
Musical-Erfahrung? Schließlich sind Weill-Perlen wie
"Mack The Knife", "Speak
Low" oder "September Song"
längst Bestandteil des einschlägigen Jazzrepertoires
und untrennbar auch mit Namen wie Louis Armstrong
oder (erneut) Fitzgerald verbunden.
Letzte Zweifel fegte Bridgewater selbst durch die Fulminanz ihres dramatisch veranlagten, rotzig-rauen, dann
wieder anschmiegsam sanften
stimmlichen Organs von der
Bühne: Das freche Waisenkind-Epos der Jenny-Saga
schien ihr an diesem Abend
wie auf den Leib geschneidert;
nie zuvor wurde auch der
"Alabama Song" zu einer derart heißen, dampfenden
Bluessession verkocht, in der
Thierry Eliez die Hammond-Orgel lustvollst heulen lassen
durfte.
Die Arrangements aus der
Feder Cecil Bridgewaters (des
erwähnten Exgemahls) kleideten Dee Dees Stimme in flexible Environments zwischen
Mini-Bigband und kammermusikalischer Solo-Gitarren-Sekundanz, deren Vielfalt mit
der Offenheit gegenüber Einflüssen zwischen Tango, Flamenco und einigem mehr korrespondierte.
Der neue alte Retro-Jazz-Purismus ist ihre Sache nicht.
Auch wenn in balladesken
Piecen wie "Lost in The Stars"
deutlich wurde, dass ihre
Stimmkraft doch ein Stück
hinter der Bühnenpräsenz zurückblieb. Dieser Abend gehörte allein Dee Dee Bridgewater. Stehende Ovationen.
(Standard-Mitarbeiter
Andreas Felber)
(D
ER
S
TANDARD
, Print-Ausgabe, 6.5. 2002)