Der kleine Bub sitzt grinsend auf einer Holzstange am Ende des Pferdefuhrwerkes, das vom Viehmarkt heimwärts rollt, durch die zahllosen Schlaglöcher rumpelnd, voll bepackt mit Stroh, einem Kalb, einem Ferkel und der halben Familie vom Kind bis zur Oma. Im rumänischen Siebenbürgen, 800 Kilometer südöstlich von Wien, mitten in Europa gelegen und doch so weit davon entfernt, ist das eine ländliche Alltagszene. Und keine idyllisierende touristische Staffage, die bezieht Siebenbürgen von woanders.

Heimat von Graf Dracula

Siebenbürgen, Transsilvanien, das "Land hinter den Wäldern", ist ja die Heimat des schaurigen Grafen Dracula. Der vom irischen Autor Bram Stoker zum Vampir romantisierte berüchtigte walachische Fürst Vlad Tepes, der die Todesstrafe mit dem Pfahl zu vollziehen pflegte, weilte tatsächlich im heutigen Sighisoara, wo sein Geburtshaus in ein Restaurant umfunktioniert wurde. Auch auf der Dracula-Burg Bran wird die Blutsauger-Legende von der entstehenden rumänischen Tourismusbranche am Leben gehalten. Die schöne Kehrseite dieser touristisch strapazierten Kitsch-Medaille ist eine ziemlich naturbelassene Region: sanft hügelige, vom Massentourismus unberührte Landschaften, allmählich wieder instandgesetzte Bauerndörfer, mittelalterliche Städte, eine Volkskultur, die noch nicht zur musealen Folklore erstarrt ist und eine multikulturelle Bevölkerung, deren Gastlichkeit sich auch durch die Stürme der jüngeren Geschichte nicht hat unterkriegen lassen.

Sieben Gerichtsstühle

Der Großteil Siebenbürgens, das seinen Namen von den sieben Gerichtsstühlen hat, die es seit dem Mittelalter in dieser Region gab, ist ein Naturreservat, in dessen Wäldern sich Bären und Wölfe gute Nacht sagen. Letzteres tun sie manchmal auch in Städten. Vor kurzem erst wurde in Brasov / Kronstadt eine ganze Bärenfamilie beim Abendessen aus einer Mülltonne gesichtet.

Land für spontane Entdecker

Mehrstern-Komfort sucht man vergebens. Aber die für den Tourismus notwendige Infrastrukur ist im Entstehen, schließlich soll der Fremdenverkehr dem ökonomisch verödeten Land neue Hoffnung geben. In einigen Dörfern gibt es schon Agrotourismus, vielerorts entstehen neue Hotels und Pensionen. Der Aufbau ist freilich kein leichtes Unterfangen - die kommunistische Industrialisierungspolitik hat einiges hinterlassen. Zerstörerische, realsozialistische Verrücktheiten, von denen so manche inzwischen brachliegen, verunzieren das Land. Daneben aber lebt der Charme der alten deutschen, ungarischen, rumänischen Bauerndörfer, in die auch schon die neue Zeit Einzug gehalten hat. Ein dörfliches Internetcafé, einige Meter weiter spannt einer sein Pferd vor den Pflug: Das ist Transsilvanien.

Reise ins deutsche Mittelalter

Siebenbürgen ist freilich nicht nur Dracula und ökonomische Lethargie. Es ist auch eine Reise ins deutsche Mittelalter. Deutsche Bauern und Handwerker wurden von den ungarischen Königen Geza II. und Andreas II. ab dem 12. Jahrhundert nach Siebenbürgen geholt und errichteten Städte und Dörfer nach deutscher Bauweise, um den ungarischen Machtbereich nach Osten zu sichern.

Multikulturelle Stadt- und Dorfkultur

Über Jahrhunderte entwickelte sich hier eine multikulturelle Stadt- und Dorfkultur. Deutsche lebten neben Ungarn, Szeklern (ungarischen Siedlern im Berggebiet), Rumänen und Roma. Heute ist von den "Siebenbürger Sachsen", die laut Historikern von der Mosel und vom Rhein kamen, nicht viel übrig geblieben. Das Aussiedlungsprogramm des 1989 gestürzten Diktators Ceausescu und die schwierige Lage nach der Wende trieben viele zur Emigration. Seit einigen Jahren ist der Bund Demokratischer Siebenbürger Sachsen aber wieder politisch aktiv, und in Sibiu (Hermannstadt) ist seit 2000 ein Sachse an der Rathausspitze. Den Städten und Dörfern Siebenbürgens gaben die Sachsen gemeinsam mit den Ungarn jedenfalls ihr unverwechselbares Gepräge. Sighisoara (Schässburg) etwa: ein auf einer Anhöhe errichteter, malerischer mittelalterlicher Architekturkomplex, der Turm mit den Lindenholzfiguren und Spitztürmchen stammt aus dem 14. Jahrhundert. Doch Bürgermeister Dorin Danesan erwartet sich den touristischen Kick für seine Stadt erst durch die Verwirklichung des "Dracula-Parks". Außerhalb der Stadt soll ein 60-Hektar-Themenpark entstehen. Von einer Investition in Höhe von 30 Millionen US-Dollar ist die Rede. Die Realisierung ist aber noch Zukunftsmusik, denn das Copyright für Dracula liegt längst bei Universal Pictures. Also müssen die Amerikaner erst als Investoren gewonnen werden. "Die Zukunft unserer Stadt hängt von diesem Park ab", ist Danesan überzeugt.

Spuren der Vergangenheit

Auch Brasov (Kronstadt), Sibiu (Hermannstadt), Cluj-Napoca (Klausenburg) tragen die deutlichen Spuren der Vergangenheit. Man hat in den Stadtzentren nach wie vor das Gefühl, in einer mittelalterlichen Stadt inmitten Deutschlands zu sein. Und nicht selten mischt sich da etwas Kaiserliches und Königliches drein, Siebenbürgen gehörte schließlich vom 18. Jahrhundert an zur Monarchie, bis es 1918 an Rumänien fiel. Vom Schässburger Stadtturm winken bis heute die Flügel des Doppeladlers. Ein Tier ist das, dessen zwei Köpfe in entgegengesetzte Richtungen blicken. Und das deshalb oft unschlüssig ist, wo links und rechts ist, vorne und hinten. Ein Zustand, der dem Siebenbürgens nicht ganz unähnlich ist. (Der Standard | Rondo | Klaus Sommer)