Der Mythos von Czernowitz scheint lebendiger denn je, was vermutlich auch mit der aktuellen Debatte über EU-Erweiterung, Migration und die Grenzen der Multikulti-Gesellschaft zu tun hat. Die legendäre Metropole der Bukowina, zu Zeiten der Habsburgermonarchie auch Klein-Wien genannt, gilt nach wie vor als unerreichtes Beispiel einer Kultur des Zusammenlebens von Nationalitäten und Religionen. Aber ist über Czernowitz wirklich schon alles gesagt? Ein soeben erschienener Sammelband beweist das Gegenteil.Die Herausgeber, Cécile Cordon und Helmut Kusdat, beschäftigen sich seit langem mit der Kulturlandschaft der Bukowina, des Buchenlandes. Literatur, Reisen und zahlreiche persönliche Kontakte schufen die Basis zu diesem Buch. Es umfasst, überarbeitet und erweitert, zwei Hefte der literarischen Zeitschrift Zwischenwelt, die von der in Wien ansässigen Theodor Kramer Gesellschaft herausgegeben wird. Zahlreiche Illustrationen - Fotos, Landkarten, Zeichnungen, faksimilierte Dokumente - liefern mehr als nur schmückendes Beiwerk. Vieles davon wird hier erstmals veröffentlicht. Zeitlich reicht der Bogen der Beiträge vom Jahr 1774, als die Bukowina von Österreich in Besitz genommen wurde, über die rumänische Epoche der Zwischenkriegszeit, den sowjetischen Einmarsch 1940 (im Gefolge des Hitler-Stalin-Paktes) und die folgenden Kriegsjahre bis in die ukrainische Gegenwart. Eines der Kleinode des Bandes sind die erstmals publizierten Erinnerungen von Oktavian Regner von Bleyleben, der von 1904 bis 1911 Landespräsident der Bukowina war. Czernowitz hat immer auch mit Humor zu tun, einer besonderen Art von Humor freilich. "Czernowitz mein schwarzer Witz" heißt es im einleitenden Gedicht von Ilana Shmueli (in Anspielung auf die Bedeutung des ersten Wortteils) geradezu programmatisch. Ein köstliches Beispiel dafür liefert eine Anekdote um das erste Automobil in der Bukowina. Die Geschichte vom überfahrenen Bauernburschen, der von Landespräsident Bleyleben großzügig entschädigt wird, was eine Welle von "Nachahmungsopfern" provoziert, passt so gut in diesen soziokulturellen Mikrokosmos, als sei sie eigens dafür erfunden worden. Einen Schwerpunkt bildet naturgemäß die berühmte deutsch-jüdische Literatur von Czernowitz. Und damit die Frage nach Identität und Heimat. 1914 waren von den rund 100.000 Einwohnern der Stadt 40 Prozent Juden. Muttersprache der meisten von ihnen war Deutsch. Heute zählt die jüdische Gemeinde in der ukrainischen Gebietshauptstadt Czernowitz/ Cérnivci (265.000 Einwohner) 6000 Mitglieder. Nach dem Einmarsch der Sowjets 1940 wurden 10.000 Juden nach Sibirien deportiert. Unter ihnen Margit Bartfeld-Feller. 50 Jahre lebte sie in der Verbannung, 1990 emigrierte sie nach Israel. Gemeinsam mit zwei weiteren Emigrantinnen aus der Bukowina, Hedwig Brenner und Sidi Gross, liest Bartfeld-Feller aus dem Buch bei der Präsentation am 22. Mai ab 19 Uhr im Wappensaal des Wiener Rathauses. Vier Bücher mit Erinnerungen an Czernowitz und die Verbannung hat Margit Bartfeld-Feller veröffentlicht. Im Gegensatz zu vielen anderen deutsch-jüdischen Autoren, denen die Erfahrung des Holocaust das Weiterschreiben in der einstigen Muttersprache unmöglich gemacht hat, publizierte Bartfeld-Feller auch in Israel auf Deutsch, was von vielen Landsleuten aus der Bukowina heftig begrüßt wurde. Was bedeutet Heimat für sie? "Heimat ist Czernowitz. Diese Liebe zu Czernowitz zieht sich wie ein roter Faden durch meine Kurzgeschichten", sagte Bartfeld-Feller in einem Gespräch mit der deutschen Zeitschrift zus. Und diese Heimatliebe ist, trotz allem, untrennbar mit der deutschen Sprache verbunden: "Im Wald und überall, wo ich war, habe ich ein Rilke-Buch bei mir getragen und in den Pausen darin gelesen. Das hat mir die Kraft gegeben." Die jüdische Lyrikerin Hanna Blitzer, die bereits 1933 aus Oberschlesien emigrierte, meint dazu: "Was kann einem Menschen passieren, der mit einem Rilke-Büchlein Bäume fällt? Es kann ihm nicht viel passieren." Liebe zu einer beschädigten Heimat, ob Ort oder Sprache: Für viele Alt-Czernowitzer ist sie nur in ironisierter Form zu bewahren. In dem ergreifenden Film "Herr Zwilling und Frau Zuckermann", dessen Hauptdarsteller auch in diesem Buch vorkommen (Zwilling starb 1999), erzählt ein Emigrant, jeder der beiden Weltkriege habe ihn einige Tausend Kilometer nach Westen verschoben. "Noch ein paar solcher Kriege, und ich bin wieder zurück in Czernowitz." Schwarzer Witz in Reinkultur. (Von Josef Kirchengast - Album, 18.05.2002)