Ausgerechnet im Jahr 1989 begannen wesentliche Meinungsbildner im westdeutschen Feuilleton über Funktionen, Positionen, Standards aktueller deutscher Literatur zu diskutieren - zuweilen mit der Vorgabe zwischen den Zeilen, dass die nunmehr geeinte Nation endlich auch wieder große Erzählungen hervorbringen müsse. Das von einer Definitionsmacht eingeforderte "Was wir heute brauchen" war die vordringliche Sorge, weniger freilich jene um eine künstlerische Vielfalt.Diese bis heute andauernde Literaturdebatte, deren Zwischenbilanz sehr gut in dem 1998 von Andrea Köhler und Rainer Moritz herausgegebenen Band Maulhelden und Königskinder dokumentiert ist, hat sich ausschließlich auf die Prosa bezogen und auch eine ganze Reihe poetologischer Selbsterklärungen hervorgerufen. Diese waren kaum Offenbarungen; die theoretischen Versprechungen wurden meist - wie im Falle Matthias Politycki - praktisch keineswegs eingelöst. Ute-Christine Krupp und Ulrike Janssen haben vor einem guten Jahr in einer Kölner Poetik-Vortragsreihe und nun in einem schmalen Bändchen einige der etwa Vierzigjährigen zusammengespannt, die in Deutschland zu den bekanntesten Vertretern einer "neuen Literatur" gehören. Sie repräsentieren "ein breites Spektrum unterschiedlicher Schreibweisen", erklärt das Vorwort, das ihnen allen eine komplexe Narrativik bescheinigt, die sie sowohl von einem "naiven Realismus" als auch von formalen Sprachspielen abgrenzt. Diese glorreichen acht erläutern ihr Schreiben und den Stand der literarischen Dinge, wobei die eigenen Lektüren und Vorbilder, die Gefühle und Umgebungen eine wesentlich größere Rolle spielen als theoretische, analytische Ansätze: Zuerst bin ich immer ein Leser - benennt der Titel die in allen Essays ausgedrückte Priorität, die abgekürzt auch lauten mag "Zuerst bin ich". Thomas Meinecke versteht das Ich als Text , in seiner Prosa werde ihre Konstruiertheit miterzählt. Er redet medien- und zeitgerecht dem Sampeln und dem Dekonstruktivismus das Wort, sich protzig einer (etwa: romantischen) Fantasie widersetzend: Er wünsche, "niemals in die Lage zu geraten, etwas erfinden zu müssen"; narrative "Ablenkungsmanöver wie Handlung" wolle er nicht dulden, erklärt er in einem Diskurs der Selbstverständlichkeit, dem "natürlich" vor den Qualitätsurteilen das wichtigste Wort ist. So vollmundig kommen die anderen Beiträge nicht daher. Sie sind zwar vor Banalitäten auch nicht gefeit, geben aber insgesamt lesbare und aufschlussreiche Einblicke in Veränderungen des "Systems Literatur" unter den neuen medialen Bedingungen, den "Generationenwechsel", vor allem in Fragen und Möglichkeiten aktuellen Erzählens. Sibylle Lewitscharoff berichtet ironisch-verspielt über das langsame Entstehen ihrer Texte; Thomas Hettche vermischt seine Reflexionen über Literatur und die Verschiebung kultureller Koordinaten mit Eindrücken einer Polenreise, die bis Auschwitz führt. In seinem Schreiben geht er vom Visuellen aus, wie auch - auf andere Art - Marcel Beyer in seinem Beitrag Licht und Yoko Tawada, die den Beginn ihrer Arbeiten als jeweils erneuten Gewinn der Fremdheit sowie als grafische Spurensuche versteht. Das Erfahrene, die bekannten Schreibräume poetisch wiederbeleben, das möchten hingegen Kathrin Schmidt und Friederike Kretzen, die sich in ihrem teilweise manierierten und platt metaphorisierten Essay für jene von Avantgardisten vehement verurteilte Erzählweise des "Es war einmal" ausspricht. Am interessantesten scheinen mir die Ausführungen von Ingo Schulze, der auch den Titel des Bandes liefert. Aus gutem Grund schildert er die eigene literarische Sozialisation als ehemaliger DDR-Bürger: Der Wechsel von einem Gesellschaftssystem zu einem anderen hat sein Schreiben geprägt, besonders seinen Umgang mit dem poetischen "Ich". Ein heutiger Roman gebe auch immer eine Antwort auf die Frage, wie es noch möglich sei zu erzählen; als ein wichtiges Moment dabei versteht Schulze die "Angemessenheit", die er so knapp wie einsichtig erklärt. Wer nach dem "Angemessenen" suche, schließt er, für den gebe es keine veralteten literarischen Formen. Das ist zwar auch nicht die allerneueste Offenbarung, immerhin aber ein Plädoyer für Offenheit. (Album, 25.05.2002 - Von Klaus Zeyringer)