Der auf der Matte nebenan braucht keine kugelsichere Weste. So wie der da seit eineinhalb Stunden praktisch ohne Unterbrechung oder Pausen Crunches in allen nur erdenklichen Variationen praktiziert, müssten nicht nur Kugeln, sondern auch Meteoriten an seiner Bauchdecke abprallen wie Flummis. Beine hoch, Kinn hoch, Hände an die Ohren, Bauch einziehen und Vollgas. Beckenheben. Schulternheben. Gerade. Nach links. Nach rechts. Halbes Tempo. Doppeltes Tempo. Der auf der Matte nebenan stöhnt. Flucht. Fragt nach jedem Satz verzweifelt "Warum?" - und setzt dann zu einem neuen Durchgang an. Keine Gnade. Und auch keine Hilfe: Neben dem auf der Matte nebenan sind lauter so Spinner wie er zugange. Stöhnend. Schwitzend. Den Tag verfluchend, an dem sie sich in einem Fitnesscenter eingeschrieben haben. Aber aufhören? Sicher nicht. Immerhin geht es um höchste Zier des modernen Mannes: Das Waschbrett. Sechs oder acht? Gleichmäßig oder ein bisserl versetzt? Egal, das ist genetisch bedingt. Aber da - sichtbar, fühlbar, vorzeigbar - müssen sie sein. Sonst ist der ganze Körper nichts wert. Später, in der Sauna, ist aus dem von der Matte nebenan der auf dem Handtuch nebenan geworden. Er dampft wie ein Ross. Und hadert. Mit sich. Dem Schicksal. Dem Alter. Und dem Bauch. Dem vor allem. Dem überhaupt. Weil der par tout nicht so will, wie der auf dem Handtuch nebenan es gerne hätte. Und das, obwohl der auf dem Handtuch nebenan praktisch jeden Tag eine Stunde der auf der Matte nebenan ist - und seine Bauchübungen macht. Aber ach: Kein Waschbrett. Dabei war das mit 17, 18 und sogar noch mit 20 ganz von selbst da, das Waschbrett. Aber weil das damals niemanden, am allerwenigsten ihn selbst, jammert der auf dem Handtuch nebenan, interessiert hat, hat er auch nichts dafür getan, dass der Bauch so bleibt, wie heute jeder - er buchstabiert dieses Wort in inbrünstiger Verzweiflung - JEDER Bauch auszusehen habe. Vor allem dann, wenn man damit etwas (der vom Handtuch nebenan meint Mädchen. Oder Jungs. Oder beides. Egal) reißen will: Ein Bauch, der aussieht, wie der Chitinpanzer einer übergroßen Küchenschabe. Ein Torso, wie die Rüstung römischer Zenturios und antiker Heerführer. Ein Relief, das zumindest so gemasert sein muss, wie die Bäuche in Superheldencomics der vergangenen Jahrzehnte. Der auf dem Handtuch nebenan müsste dabei nicht einmal die Filmversionen von Superman, Batman, Spiderman & Co ertragen, um festzustellen, dass der perfekte Männerbauch de facto kaum zu sehen ist: Ein Blick in die - durch die Bank mehr als bloß durchschnittlich definierte - Runde würde genügen. Aber weil das Traumbild vom eigenen Idealkörper die private Großhölle jedes Fitnesscenterbesuchers ist, bringt das natürlich nichts. Darum wird der auf dem Handtuch nebenan auch morgen wieder der auf der Matte nebenan sein. Fluchen, leiden und schwitzen - und in Magazinen und beim Fernsehen so tun, als würden ihn die Inserate und Werbebotschaften für Wundermittel und Fettwegzauberchirurgie nicht interessieren. Schließlich ist der auf der Matte nebenan Profi, im nicht sehen oder nicht mitkriegen. Aber - siehe die ringsum klappmessernden Herren mit aufgepumpter Restmuskulatur - er ist nicht alleine. Im Gegenteil. Der auf der Matte nebenan steht für die Unsinnigkeit der Art, in der sich die meisten Männer auf der Suche nach dem Idealkörper abrackern: Irgendwann müsste sogar der blödeste Hantelschmeißer mitkriegen, dass das Problem des perfekten Bauches weniger der Muskeltraining als das darüber liegende Fett ist. Und irgendwann müsste dann das, was ihm sein Trainer seit Anbeginn des betreuten Workouts vorpredigt, greifen: Fett verbrennt, wer läuft, Rad fährt, Stiegen steigt, Springschnur springt oder herumhopst. Und das auch nur, wenn man es länger als jene zehn Alibiminuten tut, die dann trotzig-stolz mit "Ich hab doch eh ein Warmup gemacht" vorgewiesen werden. Aber Männer sind halt manchmal ein bisserl einfach gestrickt: Sixpack. Punkt. Muskel sieht man, wo Muskel trainiert wird. Doppelpunkt. Je härter, dauerhafter und öfter der rangenommen wird, umso mehr sichtbares Resultat. Dreifachpunkt. Und aus. Außerdem hat auch der Trainer gesagt, dass es geht. Wenn der Einsatz nur stimmt. Dass jeder, also auch der auf der Matte nebenan, einen Waschbrettbauch haben kann. Aber weil der Rest der Belehrung so unbequem ist, behält man nur den ersten Satz: "Ohne Fleiß kein Preis." Die Wörter "Verzicht" und "Rechnen" kommen da nicht vor. Wen interessiert das obergescheite Gelaber von braunem Baufett und gelbem Speicherfett? Niemanden. Wer hört gerne, dass der Körper schlau genug ist zu erkennen, wo Fettreserven (gelb) dank moderner Tagesabläufe am wenigsten stören - und zieht daraus die (Bewegungs-)-Konsequenzen? Siehe oben. Wer möchte sich schon mit Rechenbeispielen abquälen, die frustrierende Nachrichten wie die vom physiologischen Brennwert von einem Kilo Fett (93.000 Kalorien) transportieren? Wie lange muss man dafür am Rad sitzen? Himmel. Und auch noch auf die Milch im Kaffee - und eine ganze Menge anderer Dinge - verzichten? Will man das wirklich alles wissen? Eben. Der auf dem Handtuch nebenan seufzt. Das wollte er eigentlich alles nicht hören. Das sei so deprimierend. Vielleicht wird er am Abend zu Hause noch ein paar Sätze Crunches dranhängen. Irgendwann wird das schon funktionieren. derStandard/rondo/31/5/02