Wien - Die eidesstattliche Erklärung vorab: Selbstredend, dass Maurizio Pollini als einer der verdienstvollsten Pianisten der letzten Jahrzehnte bezeichnet werden muss. Die Chopin-Etüden! Sein Einsatz für die zeitgenössische Musik! 40 Jahre unaufgeregt, untadelig, uneitel im Olymp des Klavierspiels. Auch Pollinis Spiel hat mitunter aber seine Tücken: nämlich keine. Soll heißen: Die Tücke des Pollinischen Tuns besteht darin, absolut tückenfrei zu sein.

Die Tempi klar gefasst, die Dynamik nicht zu exaltiert, ausbalanciert die verschiedenen Stimmen. Das Stück wie ein Anzug vom Maßschneider: sitzt, passt millimetergenau. Wenn Pollini spielt, dann ist im Dargebotenen nicht übermäßig viel herauszuspüren vom Menschen Pollini. Was nun aber auch nicht sein muss. Nichts schlimmer als Kollegen, die mit jedem Ton nur "ich, ich, ich" sagen.

Pollini nimmt sich selbst zurück. Lässt er dafür die Farben der präsentierten Werke um so reicher strahlen? Leider nein. Pollini spielte Brahms, die sieben Fantasien op. 116. Ein wenig unruhig, drängend, sonst aber sehr verwechselbar. Brahms' lebensherbstliche Weltzufriedenheit, die wärmende Profundität seiner Musik ließ er kaum anklingen.

Pollini spielte Chopins g-Moll-Ballade (als Zugabe). Die sanfte, fast luftige Melancholie zu Beginn: wunderbar. Die in Chopins Werk gegengewichtige Leidenschaft für Dramatik, Exaltiertheit, Rausch, Pose (das Finale!) blieb unerhört. Auch Beethoven: zu geschmacksneutral.

Außer im zweiten Satz der Appassionata: Da zog Pollini gegen Ende der Zweiunddreißigstelstelle das Tempo deutlich an; die verminderten Septakkorde zu Beginn des Dritten rotzte er hin wie irr. Endlich: wüste Wut! Ruppigkeit! Raserei! Der Einzelne, das Ich erhebt sich, wütet gegen die Gesellschaft: Beethoven also. Zum Vergleich: Auch bei Grigorji Sokolov bleibt alles im klassischen Rahmen, auch er nimmt sich selbst nicht wichtig. Und trotzdem wird man bei ihm als Zuhörer zum staunenden Kind, erlebt minütlich, sekündlich alles neu. (end/DER STANDARD, Printausgabe, 6.6.2002)