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Die literarische Verzeichnung von Alltagsdaten ist ein Liebäugeln mit dem Ausnahmefall: Im hereinbrechenden Wust der Kenndaten und Planziffern soll sich der Blick auf "das Andere" desto sicherer bewähren. Vor den Augen der Alltagsethnologie ist kein Anlass zu gering, kein Umstand zu gewöhnlich, um nicht zur getreulichen Verzeichnung zu taugen.

Nichts, was im Ambiente einer bundesdeutschen Mittelstandswohnung unbemerkt bliebe: Der Seidenanzug einer jungen Anwältin ist "Sherry-farben"; der Jännerschnee wickelt sich wie "organischer Schleim" um die Äste kahler Bäume, und man bedenkt nicht ganz ungerührt den Zusammenhang, dass die Romanfigur Aloe in Ulrike Draesners ausladendem Gespinst Mitgift eben einen Abortus mit anschließender Ausschabung hinter sich gebracht hat.

Das mikroskopische Wühlen in den Details hilft, Erinnerung zu verbürgen: An ihr entzündet sich jene Fremdheit, welche die eigene Bildung und Entwicklung im Licht einer sich erst anbahnenden Erkenntnis zeigt. Das meint auch den tieferen Sinn von Draesners atemloser Kulissenschieberei, irgendwo im Vieleck zwischen Schwandt, Berlin, Oxford und Chile: Alle diese Daten geben den abschüssigen Boden ab, auf welchem die Verhältnisse ins Tanzen geraten sollen.

Bei Draesner (40), die bislang vor allem mit Lyrik hervorgetreten ist, obwaltet obendrein ein biopolitisches Kalkül. Aloe misst sich in Liebes-und Herzensangelegenheiten an ihrer makellos schönen Schwester Anita. Letztere aber ist ein Hermaphrodit, das heißt: ihre Klitoris ist abnormal vergrößert, und an diesem Befund, der eine Flutwelle operativer Eingriffe nach sich zieht, droht eine typische Wirtschaftswunderfamilie schier zu zerbrechen.

Das Phantasma der Schwester, deren reales Bild von Mullbinden verdeckt wird, bezeichnet das geheime Angstzentrum von Aloes Existenz. Fortan misst sich die Halbwüchsige mit eifersüchtiger Faszination an der spröden, sich jeder Zudringlichkeit entziehenden "Anderen".

Das scheinbare Glücken von Anitas Lebensentwurf – sie darf modeln und wird sogar Mutter – zieht eine bewusstlose Optimierungskampagne nach sich: Aloes Körper wird zum Schlachtfeld mutwilliger Entwürfe, ein Exerzierfeld für Biotechnologie. Verstrickt in eine ermüdende Beziehung mit dem Astrophysiker Lukas, flieht Aloe nacheinander in die Anorexie, in das esoterische Verströmen, das Gluten und Fluten einer nach allen Seiten offenen Existenz. Am Schluss wird sie als Erbin der vom "Ehe-Mann" ermordeten Bruder-Schwester deren Kind mit rührendem Eifer großziehen: als Teil einer Eingewöhnung in die Übermacht der Verhältnisse. Draesner läuft jene Türen geräuschvoll ein, die dunkle Propheten wie Houellebecq oder Sloterdijk bereits vor ihr mit effektvollem Quietschen aufgerissen haben. Die höchst engen Regeln des Selbstentwurfs meinen jenes beinharte Durchgreifen einer biologischen Ordnungsmacht, deren großteils versteckte Regime jemand wie Michel Foucault unter dem Spruchband von "Sexualität und Wahrheit" mit unermüdlichem Eifer beschrieben hat. Die Autorin verpflichtet ihr Schreiben aber auch einer betulichen Ausführlichkeit, die an den Chronikschreibern des gehobenen Mittelstandes ihr umständliches Maß nimmt. Gabriele Wohmann versteht dergleichen effektsicherer zu inszenieren, ganz zu schweigen von: Martin Walser, dem großen Schlüsselromanschreiber vom Bodensee. Wer nicht jeder Zeit an der Farbe von Bernsteinketten oder am Geschmack von Lutschbonbons interessiert ist, dessen Mütchen wird mit Sentenzen schockgefroren: Liebe schwirrt dann in den "Bögen und Umwegen" eines Golfballs, "und manchmal ganz im Kreis". So ist sie halt, die Liebe. Das ist des nicht Gelungenen Not. (Von Ronald Pohl/DER STANDARD, Printausgabe, 8.6.2002)