Durch Ausdauer bei Wind und Wetter sind die Widerstandlesungen, die wöchentlich am Ballhausplatz im Freien stattfinden, zu einer festen Einrichtung im österreichischen literarischen Geschehen geworden. Die erste derartige Lesung hatte im Jahr 2000 unmittelbar nach Angelobung der schwarz-blauen Regierung stattgefunden und ist ein Zwölf-Stunden-Marathon gewesen. Die Idee stammt von Michaela Opferkuh und Doris Nußbaumer. Nach dieser Initialzündung gründeten die Schriftstellerinnen El Awadalla und Traude Korosa das historische Dauerevent. Zunächst gab es täglich Lesungen, im Frühjahr 2000 wurde dann auf zwei Mal wöchentlich reduziert, wobei eine der beiden Lesungen immer in Anschluss an den Protest des „Volkstanznet“ gegen die Verhaftung der „Volxtheaterkarawane“ stattgefunden hat.

Im Herbst 2000 beschlossen Korosa und Awadalla, nur noch ein Mal pro Woche zu lesen – passend zum Termin der Donnerstagsdemonstrationen - von 17.00 bis 19.00 Uhr. Das soll so bleiben, „so lange es diese Regierung gibt“.

Rund 400 Personen haben seither gelesen. Es gibt Serienleser, Inszenierungen, gezielte Aktionen zu historischen Daten etwa der Bücherverbrennung, Gerichtsprotokolle sind zu hören. Die Organisatorinnen verstehen die Lesungen als eine Form von demokratischem Protest, Literatur als eine der mächtigsten Waffen, wobei ihr Selbstverständnis allerdings „verloren gegangen“ sei. Ihnen geht es auch darum, Literatur stärker in das Bewusstsein zu rücken und in diesem Sinne ein latentes „Versagen“ einer Medienlandschaft aufzuholen, die sich stärker um die Rezeption internationaler Bestseller bemüht als um das, was inländisch passiert.
Bekannt sind die Widerstandslesungen im deutschsprachigen Raum, in England, Italien und den USA; Feedback gab es in den letzten zwei Jahren etwa auf der Leipziger Buchmesse, besprochen wurden die Widerstandslesungen im „Spiegel“. Gratulationsschreiben kamen von schweizerischen und deutschen Journalisten.

derStandard.at: Seit dem dritten Februar gibt es die schwarz-blaue Regierung, und seit 24.2.2000 gibt es die Widerstands-Lesungen. Wie viele Personen haben seither gelesen? T.K.: Ungefähr 400 KünstlerInnen, überwiegend AutorInnen. Nicht alle sind namentlich bekannt, dazu kommen noch jene, die wir nicht namentlich kennen, weil sie einfach spontan oder in einer Gruppe aufgetreten sind. derStandard.at: Was wird gelesen? T.K.: Überwiegend lesen die AutorInnen aus eigenen Werken; aber diejenigen, die gelegentlich „einspringen“, lesen das, was sie eben gerade dabei haben. Es werden immer wieder auch Werke von verfolgten, exilierten, ermordeten SchriftstellerInnen gelesen – vor allem von solchen, die völlig unbekannt sind. Natürlich werden gelegentlich auch Liebesgedichte gelesen, aber vorwiegend haben alle Werke schon einen politisch/kritischen Ansatz, oft nehmen sie sogar auf tagespolitisches Geschehen Bezug; der Ballhausplatz ist ja sozusagen prädestiniert, gerade Geschriebenes am Publikum zu testen, manchmal auch szenische Lesungen, zum Beispiel vom Lesetheater. Am Ballhausplatz zu lesen ist mehr oder weniger ein „Härtetest“. Freiluftlesungen sind sowieso immer schwierig, dort aber herrscht gerade in der warmen Jahreszeit reges Freizeitleben. Wir schaffen es immer wieder sehr gut, uns das Publikum auch auf der Wiese zu „erlesen“. E.A.: Auch extra für den Ballhausplatz Geschriebenes wird gelesen. Texte, die die AutorInnen für sinnvoll erachten. Politisches, Gerichtsprotokolle etwa zu Markus Omofuma, Zeitungsartikel, vieles aus der Zwischenkriegszeit. T.K.: Immer wieder wird aus Werken jener Generation gelesen, die durch die faschistische Verfolgung fast in Vergessenheit geraten ist. Ich lese immer wieder aus Alfred Bittner „Novotnys Mumie“. Bittner ist ein Wiener Autor, den kaum jemand kennt. Klara Blum wurde ebenso gelesen wie Berta Lask; eine Vielzahl von Namen, darunter Tucholsky, Kästner, immer wieder Erich Mühsam, auch Jura Soyfer, das Lesetheater liest Nelly Sachs und Paul Celan. Eugen Brochier präsentiert in Fortsetzungen „Morgengrauen“ von Charles Ofuedu. Andreas Pecha stellt auch immer wieder fernöstliche kritische AutorInnen vor, die für den Frieden im Nahen Osten eintreten. Immer wieder werden auch Texte von AutorInnen gelesen, die in anderen Ländern verfolgt werden oder inhaftiert sind. derStandard.at Wie sieht die Publikumsstruktur aus? E.A.: Das ist sehr unterschiedlich. 12-jährige Skater, Punks, PensionistInnen, TouristInnen, manchmal finden sich zehn Personen ein, manchmal über 50, bei der 100. Lesung waren es gut 200. Das ist abhängig von der momentanen politischen Lage und vom Wetter. T.K.: Wir merken schon eine Kontinuität bei den Widerstandslesungen. Es gibt ein „Stammpublikum“, das immer wieder kommt, oft sogar jeden Donnerstag. derStandard.at Wir hatten jüngst die heimliche „Abholzung“ der Botschaft, da hatten wir vor einem Jahr die fehlende Unterstützung der Volxtheaterkarawane durch die Außenministerin und zuvor die Reaktion der Bachmann-Erben auf die Landes- und Bundesregierung. Welche politischen Vorkommnisse lassen die Besucherfrequenz steigen? Nur kulturpolitische, die eine Zweckserklärung zu Widerstandsaktivitäten allgemein und der Lesungen im Besonderen rechtfertigen? E.A.: Eine spezielle Rechtfertigung ist nicht notwendig, die blauschwarze Regierung allein reicht als Grund. T.K.: Wir sind als Organisatorinnen in Widerstands-Aktivitäten natürlich involviert. Unsere Verteiler werden dann rasch und spontan zur Informationsverbreitung benutzt, wir haben in unserer Zusammenarbeit mit dem Volxtheater im letzten Jahr auch Unterschriften mitgesammelt und reagieren natürlich auch bei den Widerstandslesungen am Ballhausplatz darauf, indem wir aktuelle Informationen bringen und die Veranstaltungen thematisch vorbereiten. Aber das passiert nicht nur bei diesen Ereignissen, die von den Medien wahrgenommen werden, das machen wir immer wieder und bereits so oft, dass es unmöglich ist, sie aufzuzählen. Im Fall der Botschaftsräumung war El vor Ort, informierte mich per Handy und ich gab die Informationen in die Verteiler. E.A.: Bei Lesungen aus den Prozessprotokollen zum Tod von Markus Omofuma und damals bei der Volxtheaterkarawane war viel los. derStandard.at: Versteht Ihr Euer Modell als eines, das dem Traditionsmodell von Literatur als Schriftsprache, die gewöhnlich immer erst nachträglich die Kritik am gegenwärtigen Zustand liefert, entgegenläuft – entgegenlaufen kann, weil wir heute unsere Meinung öffentlich sagen dürfen? – Seht Ihr eine Überwindung von Theorie und Praxis? T.K.: KünstlerInnen sind Seismographen der Gesellschaft, die meisten von ihnen jedenfalls, sie nehmen kassandrisch politische Strömungen wahr, noch ehe sie wirklich greifbar geworden sind. Am Ballhausplatz werden oft Texte gelesen, die vor ein paar Jahren bereits entstanden sind, die aber den Verlauf der politischen Ereignisse damals schon genau vorausgeahnt haben. Diese Regierung hat sich ja angekündigt ... Literatur ist immer öffentlich, war sie immer – ob die Meinung hätte gesagt werden dürfen oder nicht, sie wurde literarisch dennoch immer wieder gesagt. Im Fall von Zensur eben von wenigen Mutigen, die dann dafür meist auch verfolgt wurden oder gar ermordet worden sind. Es gibt aus dem frühen 20. Jahrhundert genug politische Literatur, die heute geschrieben worden sein könnte. Sie hat das ja auch mit ihrem Leben bezahlen müssen. Eine Überwindung von Theorie und Praxis sehe ich da nicht; die wurde immer schon überwunden, von den AutorInnen, Die Germanisten sehen das vielleicht anders (ich bin selber Germanistin). derStandard.at: In welchem Verhältnis steht Eure politische Literatur im Spannungsfeld mit der Tradition Experiment („Form“ vor „Sinn“)? – Was bedeutet das für das „Image“ der Lesungen? Traude, Du hast einmal erwähnt, dass jedeR SchreiberIn eine experimentelle Phase durchmache. Das setzt voraus, dass Du einen inhaltlich-kritischen Anspruch höher setzt als die Kunst der Sprachspielerei. Mein Eindruck war bisher derjenige, dass viele in Wien das Verhältnis anderes sehen. Könnte das stimmen? T.K.: Nicht die Literatur ist politisch – im Sinne von inhaltlich – sondern Literatur an sich ist Gesellschaftskritik. Texte zu lesen, etwas herauszulesen, das ist ja der Job der RezensentInnen. Literatur löst ja mehr oder weniger Facetten aus der Realität und stellt sie damit bloß; ob es nun beabsichtigt kritisch oder unabsichtlich passiert. Dies trifft auch durchaus auf experimentelle Texte zu. Mir ist der inhaltlich-kritische Anspruch schon sehr wichtig, aber nicht auf Kosten der Form. Form und Inhalt sollten im idealsten Fall eine Einheit bilden, dann ist das Werk fertig. Ich stimme nur nicht in den allgemein germanistischen Tenor bezüglich der österreichischen Literatur ein. Am Ballhausplatz erleben wir, dass diese Leute die experimentelle Phase hinter sich gelassen haben und Neues ausprobieren. H.C. Artmann hatte einmal gesagt, dass die Wiener Gruppe nie existiert hat, sie scheint eine germanistische Erfindung zu sein, im Nachhinein. Genauso wie damals eben eine Gruppe von KünstlerInnen experimentiert, produziert hat, genauso machen es auch jetzt einige Gruppen in Wien, auf ihre Weise – sie werden bloß von den Medien nicht zur Kenntnis genommen. E.A.: Das "Experiment" hat die höchst praktische Seite für AutorInnen und RezensentInnen, dass sie vor lauter Wortspielerei an einem möglichen Inhalt elegant vorbeischauen können, was natürlich sehr bequem ist, wenn man/frau sich nicht politisch positionieren will. Es ist ja auch kein Zufall, dass niemand aus der hochgelobten Experiment-Szene am Ballhausplatz auftaucht. derStandard.at: Christine Werner hat die Motivation einmal als „Problem der Intellektuellen“ beschrieben, als „ohnmächtige Wut über „PolitikerInnen, die manipulierbare Halbdeppen züchten, die sie für eigene Zwecke blöd bleiben lassen“ Könnt ihr Euch damit anfreunden, Intellektuelle zu sein, die mit ihrer Wut irgendwo hin müssen, die aber wissen, als Verändernde chancenlos zu bleiben, was die Frage aufwirft: Kann Kunst pragmatisch sein? E.A.: Ich bin keine Intellektuelle. Ich schreibe, ich veranstalte. Selbstbezichtigungen dieser Art sind mir suspekt. Intellektuelle sind jene, die von gewissen Medien als Meinungsquelle herangezogen werden. Ebenso ist mir die "ohnmächtige Wut" suspekt. Das passt nicht zusammen mit einer kontinuierlichen Arbeit über mehr als zwei Jahre hinweg - und das sind die Widerstandlesungen nun einmal: beständige Planung und Organisation. „Ohnmächtige Wut“ passt zum Bombenwerfen etc. T.K.: Ich betrachte mich als Praktikerin, nicht als Intellektuelle, tue, was ich tun will/muss. „Ohnmächtige Wut dagegen macht handlungsunfähig, würde uns ausliefern. Ich bin vielleicht eine schreckliche Optimistin: aber wer sagt denn, dass wir chancenlos sind? wenn wir die Hände in den Schoß legen, die Zustände hinnehmen wie sie sind, dann, ja dann sind wir chancenlos! Das ist ja gerade der Grund, warum ich Mitorganisatorin der Widerstandslesungen bin: und wenn an einem Donnerstag nur ein einzelner Mensch stehen bleibt, zuhört, der sich vorher nicht groß Gedanken zur Regierung, zur Operation Spring etc. gemacht hat – wenn der stehen bleibt, zuhört, dann noch mit uns diskutiert und anfängt, nachzudenken – haben wir dann nicht bereits eine winzige Veränderung erreicht? Mein Ziel ist bescheiden, das System der kleinen Schritte. Es gibt dann auch noch einen nützlichen Nebeneffekt: wir bringen Literatur dorthin, wo Leute sind, die vorher vielleicht nicht viel mit Literatur am Hut hatten.