Standard: Ihrem Antrag auf Aufhebung des Paragrafen 209 haben die Verfassungsrichter erst im zweiten Anlauf stattgegeben. Wo lag der Unterschied?

Tischler: Im ersten Antrag im Mai 2001 habe ich die Unrechtmäßigkeit eines unterschiedlichen Schutzalters bei Burschen und Mädchen in den Mittelpunkt gestellt. Wie schon die zurückgewiesene Verfassungsbeschwerde der Homosexuelleninitiative im Jahr 1989 argumentiert hat, habe auch ich ins Treffen geführt, dass die so genannte Prägungstheorie, wonach Buben homosexuelle Verführung dramatischer erleben als Mädchen, wissenschaftlich nicht mehr haltbar ist.

Standard: Dem wollten die Höchstrichter nicht folgen?

Tischler: Sie haben argumentiert, dass hier "entschiedene Sache" vorliege und so eine Überprüfung ihres Spruches aus 1989, der ja im Sinne der Prägungstheorie erfolgt ist, abgelehnt. Für mich hingegen war es selbstverständlich, dass die Prägungstheorie nicht mehr dem Stand der Wissenschaft entspricht und der Paragraf 209 deshalb einen unzulässigen Eingriff in die Privatsphäre darstellt. Das war für mich das Königsargument, übrigens auch schon 1989.

Standard: Ihrem zweiten Antrag auf "209er"-Aufhebung haben Sie dann das Argument beigefügt, dass der Paragraf Schwulenpaare im Laufe der Jahre einer "wechselnden Strafbarkeit" aussetze. Ist das von größerer verfassungsrechtlicher Relevanz?

Tischler: Auf dieses Argument sind die Verfassungsrichter dann halt aufgesprungen. Anders hätten sie sich wohl nicht einigen können.

Standard: Aus welchen Gründen? Kritik, etwa vom Europarat, gab es ja schon zuvor sehr heftige.

Tischler: Weil es, was mich enttäuscht, unter Juristen immer noch die starke Vorstellung eines regulierenden Strafrechts gibt - heute wie unter Metternich. Modernere Ansätze hingegen betrachten das Strafrecht eher als Notbremse, das - statt persönlichen Moralvorstellungen zu entsprechen - Zustände abschafft, die in einer multiplen Gesellschaft für alle unerträglich sind. Was auf homosexuelle Liebe sicher nicht zutrifft.

Standard: Homosexuellenverbände fordern jetzt Entschuldigung, Amnestie und Entschädigung. Zu Recht?

Tischler: Was die Richterschaft angeht, weise ich darauf hin, dass sie - so weit es die 1. Instanz betrifft - die Pflicht hat, bestehende Strafgesetze zu vollziehen. Nur Rechtsmittelgerichten ist es möglich, einen Antrag auf Prüfung der Verfassungsmäßigkeit zu stellen. Angebracht aber wäre eine Entschuldigung von jenen Richterkollegen, die in Urteilsbegründungen nach Paragraf 209 besonders auf die angebliche "Verabscheuungswürdigkeit" der Tat hingewiesen haben. (DER STANDARD, Printausgabe, 1.7.2002)