Das selbstfahrende Krankenbett fährt den Patienten in den OP-Saal, wo bereits der Roboter den Instrumententisch gedeckt hat. Während die Chefärztin in ihrer Virtual-Reality-Brille die Checkliste durchgeht, verkabelt der Anästhesist den Patienten und intubiert ihn. Nachdem die Narkose ihre Wirkung entfaltet hat, setzt der OP-Roboter mit chirurgischer Präzision einen Schnitt an der Bauchdecke und entfernt mit seinem mechanischen Greifarm einen kleinen Tumor.

Die Chefärztin, die ihr Handwerk im Metaverse gelernt hat, überwacht den Vorgang und zurrt mit ein paar gekonnten Handgriffen die Naht zu. Zurück im Zimmer wartet bereits der Pflegeroboter, der dem Patienten ein Glas Wasser reicht und mit ein paar Witzen aufheitert. Während in der Pathologie die Gewebeprobe von einem KI-System analysiert wird, beginnt die medikamentöse Therapie mit einer personalisierten Pille, die ein Wiederauftreten des Geschwürs verhindern soll.

Revolutionärer Fortschritt

Was nach einer Utopie klingt, könnte schon bald Wirklichkeit werden. Schon heute führen OP-Roboter chirurgische Eingriffe durch und assistieren Medizinern. Künftig könnten solche Assistenzsysteme auch von einer Ärztin oder einem Arzt ferngesteuert werden, der tausende Kilometer entfernt ist. Wenn es bald immer mehr alte Menschen und immer weniger Fachpersonal gibt, erscheinen solche Szenarien nicht mehr ausgeschlossen, vor allem, wenn es darum geht, die ärztliche Versorgung auf dem Land sicherzustellen.

In ferner Zukunft könnten mobile, vollautonome Roboter, die mit einem Computer-Vision-System die Retina scannen, vielleicht sogar eigenständig Augenoperationen durchführen. Die Medizin steht mit der Entwicklung von KI und Robotik vor einer Transformation, manche sagen sogar vor einer Revolution, die die Welt ähnlich verändern könnte wie die Entdeckung von Penicillin.

Assistenz-Roboter verbindet den Arm eines Patienten in dessen Zuhause
Ist der technologische Fortschritt die Lösung für den Personalmangel im Gesundheitswesen?
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Künstliche Intelligenz, das heißt maschinell lernende Algorithmen, kann in riesigen Datenmengen – etwa in Röntgenaufnahmen oder CT-Scans – auffällige Muster und Krankheitszeichen detektieren, die dem menschlichen Auge verborgen bleiben. KI-Systeme sind dem Menschen in der Diagnose von Brust- und Hautkrebs bereits überlegen. Laut einer Studie britischer Mediziner können KI-basierte Algorithmen auch besser die Aggressivität bösartiger Tumore erkennen. Jedes Jahr sterben nach Angaben der WHO zehn Millionen Menschen an Krebs. KI kann also Leben retten.

Wirtschaftliche Interessen

Digitale Gesundheit ist ein riesiger Wachstumsmarkt – bis 2028 könnte das Marktvolumen nach Schätzungen von Analysten auf 550 Milliarden US-Dollar anwachsen. Klar, dass an diesem Geschäft auch Tech-Konzerne teilhaben wollen, hinter deren Weltverbesserungsideen schon immer monetäre Interesse standen. So haben Google-Forscher kürzlich eine KI entwickelt, die anhand von Husten- und Atemgeräuschen Krankheiten wie Covid-19 oder Tuberkulose erkennen soll. Das System, das mit Millionen von Audiodateien menschlicher Geräusche trainiert wurde, könnte eines Tages Ärztinnen und Ärzten assistieren. Dr. Google 2.0.

Amazon hat bereits vor einigen Jahren eine ähnliche Technologie für seine Spracherkennung Alexa patentieren lassen, die "abnorme" Zustände wie Husten oder Schnupfen erkennt und Hustenbonbons in der Hausapotheke ordert. Alexa, sag mir, ob ich erkältet bin.

Auch andere Tech-Konzerne mischen mit: Apples Smartwatch, die am Puls von 115 Millionen Trägern auf der Welt fühlt, ist de facto eine mobile Arztpraxis, die mit einer Sturzerkennung, EKG-App sowie einem Blutsauerstoffmessgerät ausgestattet ist. Der Facebook-Konzern Meta vermarktet sein Metaverse derweil als 3D-Lernort für medizinisches Personal. Tech-Unternehmen haben gegenüber Hochschulen also einen gewaltigen Wissensvorsprung, weil sie über massenhaft Gesundheitsdaten verfügen: Suchanfragen nach Symptomen, Schritte, Herzfrequenz, Stimme.

Innovative Zugänge

Mittlerweile gibt es eine Reihe von Start-ups, die an innovativen Healthtech-Anwendungen tüfteln: Smarte Spiegel, die Vitalfunktionen wie den Blutdruck checken. Gadgets, die sich wie ein Duftstein in die Toilette klemmen lassen und Urinwerte analysieren. Smarte Fliesen, die mit Sensoren Gleichgewichtsstörungen und Temperatur messen. Musste der Patient vorher extra in die Arztpraxis, um eine Urin- oder Stuhlprobe abzugeben, kann er seine Exkremente daheim selbst auswerten. Das Smart Home wird zum Labor.

In Zukunft könnten smarte Bodenfliesen mit integrierten Drucksensoren biometrische Ganganalysen etwa zur Frühdiagnose von Demenz durchführen. Wer braucht noch Laboranten, wenn es KI gibt? Künstliche Intelligenz wird Ärztinnen und Ärzte nicht überflüssig machen, aber sie wird zu einem wichtigen Werkzeug. Und zwar nicht nur in der Diagnose, sondern auch in der Therapie.

Individuelle Behandlung

Pharmakonzerne investieren Milliarden, um mithilfe von KI neue Impfstoffe und Arzneien zu entwickeln. Die Entwicklung eines neuen Medikaments dauert bis zur Zulassung oft mehrere Jahre: Pharmaforscher müssen im Labor Milliarden von Kombinationen durchspielen, um einen Wirkstoff zu identifizieren, der genau an der richtigen Stelle im Körper andockt. Mithilfe von KI-basierten Simulationen könnte man diesen Prozess abkürzen und eine Art Shortcut zu einem Medikament finden. Ein KI-Modell, so die Hoffnung, könnte genau die Molekülkette bauen, die es für die Heilung einer Krankheit braucht – und irgendwann vielleicht sogar ein auf Patienten maßgeschneidertes Medikament entwickeln. Jeder Mensch reagiert unterschiedlich auf eine Therapie, da es Arzneimittel nur von der Stange gibt.

In klinischen Studien werden Medikamente meist an weißen Männern getestet, was in der Praxis dazu führt, dass sie bei Frauen oder Schwarzen weniger gut wirken. Das Versprechen von KI ist es daher auch, einen inklusiveren Zugang zu Medizin zu ermöglichen. Gleichwohl steckt in dieser Hoffnung noch viel Wunschdenken, weil KI-Systeme in der Praxis diskriminieren. So zeigen Studien, dass die KI-gestützte Hautkrebsdiagnose bei Menschen mit dunklerer Haut weniger präzise ist als bei Menschen mit helleren Hauttönen.

Risiken und Nebenwirkungen

Die Ursachen sind sozioökonomischer Natur: Weiße haben höhere Schulabschlüsse als Schwarze und damit mehr Einkommen, gehen häufiger zum Arzt (weil besser versichert) und sind daher in den Bilddatenbanken überrepräsentiert. Die Folge: Die KI hat weniger Trainingsdaten von Afroamerikanern und damit eine geringere Diagnosefähigkeit. Das bei Schwarzen ohnehin höhere Sterblichkeitsrisiko wird damit noch erhöht.

Neben diesen sozialen und ethischen Fragen wirft die digitale Medizintechnik eine Reihe arzthaftungsrechtlicher Fragen auf: Was passiert zum Beispiel, wenn die Bild-KI eine fehlerhafte Diagnose stellt, also zum Beispiel eine Krebsart nicht erkennt? Was, wenn der OP-Roboter das falsche Knie operiert? Wer haftet für solche Behandlungsfehler? Die Ärzte, weil sie die Maschine nicht beaufsichtigt haben? Der Robotikhersteller? Oder die Softwarefirma? Künstliche Intelligenz ist ein mächtiges Werkzeug, das Leben retten kann. In den falschen Händen kann es am Menschen aber auch Schaden anrichten. (Adrian Lobe, 6.5.2024)