Rennpiste Sölden
Eine Rennpiste bekommen sie in Sölden Jahr für Jahr hin – mit großem Aufwand.
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Die Gletscher sterben, das scheint unausweichlich. In den Sommern zieht sich das Eis immer mehr zurück. Gletscherskigebiete setzen auf Palliativmedizin, in der Therapie kommen neue Hilfsmittel zum Einsatz: Bagger.

Auf dem Rettenbachferner im Skiort Sölden wurden im Spätsommer Arbeiten mit schwerem Gerät vorgenommen. Weil der schrumpfende Gletscher immer mehr Gestein freilegt, musste Geröll abgetragen und der Hang begradigt werden. Nicht nur Geröll, sondern auch Gletschereis könnte abgetragen worden sein. Am kommenden Wochenende finden in Sölden die ersten Skirennen der neuen Saison statt. Angesichts des frühen Termins fragen viele: Ist das den großen Aufwand wirklich wert?

Kritik aus der Ski-Blase

Viele Leute aus der Skiszene, mit denen DER STANDARD für diesen Text gesprochen hat, sind es leid, dass ihr Sport als Umweltsünder dasteht. Doch der alpine Skilauf ist jene Sportart, in der sich die Auswirkungen des Klimawandels am eindrücklichsten bemerkbar machen. So gut wie niemand aus dem Weltcup zweifelt am Klimawandel, aber was die Ski-Blase dabei nicht bedenkt: Bagger auf einem Gletscher sind nicht normal.

Insgesamt freilich wächst das Bewusstsein für Klimathemen. Die Skifirma Atomic lud etwa zu einem Klimagipfel, den auch andere Ausrüster besuchten. Atomic-Skiprofis werden von der NGO "Protect Our Winters" zu Folgen und Kommunikation über Klimawandel geschult.

Wintertourismus ankurbeln

Sölden soll den Wintertourismus ankurbeln. Eine Absage würde ein katastrophales Bild an Kundinnen und Kunden vermitteln, unken viele Touristiker: "Bleibt daheim, bei uns könnt ihr (noch) nicht Ski fahren." Ausrüster hoffen, dass sich Zuseherinnen und Zuseher neue Skier, Fäustlinge oder Thermounterwäsche kaufen. Skiprofis werden auch von Skifirmen bezahlt. Geht es ihren Geldgebern gut, geht es den Profis gut.

Was sagen Athletinnen und Athleten zum Weltcup-Auftakt in Sölden? Welche Forderungen stellen Umweltorganisationen? Und wie reagieren die Liftbetreiber, der Österreichische und der Internationale Skiverband? Ein Blick auf den Auftakt in Sölden aus fünf verschiedenen Perspektiven.

1. Greenpeace schlägt Alarm und fordert Umdenken

Die Umweltorganisation Greenpeace veröffentlichte Mitte September Aufnahmen von den Baggerarbeiten am Rennhang in Sölden. Der Gletscher würde dadurch zerstört, hieß es. Greenpeace sprach von einer "Katastrophe", es gebe auch Anzeichen, dass im Skigebiet Sprengungen durchgeführt wurden. Darauf deuteten etwa Warnschilder im Zielbereich auf 2670 Meter Seehöhe hin, als schweres Gerät das Geröll aus der steilen Felswand räumte.

"Da wird sehr viel Energie aufgewendet, um künstlich früh in der Saison einen Skiauftakt zu veranstalten", sagt Ursula Bittner von Greenpeace. Sie hält das für "nicht zeitgemäß". Alleine die Arbeiten mit mehreren Baggern verursachen sehr viel CO2. "Wir zerstören die Natur", sagt Bittner. "Welchen Preis haben die Rennen?"

Ihre Kritik richtet sich vor allem an den Weltverband FIS, der für den Rennkalender zuständig ist. Die FIS zwingt Skigebiete wie Sölden, den Betrieb schon im Oktober zu starten.

Emissionen reduzieren

"Die FIS behauptet, sie unternehme viel für die Umwelt. Im Endeffekt trifft sie keine Maßnahmen und orientiert sich an wirtschaftlichen Interessen", sagt Bittner. Die FIS vermeldet gerne, als erster Weltsportverband klimapositiv zu arbeiten. Sie beruft sich auf ein Projekt, das Abholzungen von Regenwäldern verhindert und mehr CO2 einsparen soll, als sämtliche Wintersportwettbewerbe ausstießen. Die Initiative verhindert also Abholzung. "Ein Flug oder ein FIS-Event wird nicht grüner, nur weil woanders ein Baum gepflanzt wird", sagt Bittner dazu.

Greenpeace fordert zudem ein nachhaltigeres Konzept für die Anreise zum Weltcup-Wochenende nach Sölden. Auf der Zufahrtsstraße zum Rettenbachferner staut es sich jedes Jahr. "Die meisten kommen mit dem Auto oder gar mit dem Flugzeug. Man muss die Emissionen runterfahren", sagt Bittner.

Gletscherarbeiten betreffen nicht nur Sölden: Auch im Skigebiet Zermatt/Cervinia im schweizerisch-italienischen Grenzgebiet schlagen Umweltorganisationen Alarm. Dort sollen die ersten Abfahrten des Winters stattfinden. Und auch auf dem dortigen Gletscher waren in den vergangenen Tagen Bagger am Werk.

2. Skiprofis zwischen Gewissen und Medienkritik

Marco Schwarz ist Österreichs größte Hoffnung im Gesamtweltcup. Vor zwei Wochen fuhr er eine Trainingsrunde mit dem Rennrad. "Ich bin mir vorgekommen wie im Sommer", sagt er. Die Bilder von den Baggern auf dem Rettenbachferner kennt Schwarz. Die Arbeiten, sagt er, dienten auch dem Publikumsbetrieb. Aber: "Man muss sich die Frage stellen, ob es dafürsteht."

Der extrovertierte ÖSV-Techniker Manuel Feller sagt, angesprochen auf die hohen Temperaturen im Sommer: "So extrem wie heuer habe ich es noch nie erlebt." Er findet die Arbeiten in Sölden sinnvoll, das Eis auf dem Gletscher werde in einigen Jahren zur Gänze verschwunden sein. Feller sagt, er habe schon im Frühjahr gewusst, dass auf dem Hang gebuddelt wurde. "Natürlich schaut es katastrophal aus", sagt er. "Man muss medial aber nicht so herziehen über das Projekt." Die Berichterstattung sei ihm zu "einseitig" ausgefallen.

Worte mit Gewicht

Mikaela Shiffrin hat in ihrer Karriere 88 Weltcuprennen gewonnen — so viele wie niemand zuvor. Ihr Wort hat Gewicht, sie wird in der Szene und darüber hinaus gehört. Ihre Äußerungen sind einer Leaderin ihres Sports würdig. "Ich bin keine Expertin", sagt sie, "aber ich weiß genug, um sagen zu können: Das, was wir derzeit tun, macht wenig Sinn." Sie fordert eine Änderung des Rennkalenders, der Saisonstart in Sölden solle nach hinten verlegt werden. Olympiasiegerin Lara Gut-Behrami aus der Schweiz pflichtet Shiffrin bei: "Wir haben weniger Schnee im November und viel im April. Für viele Athleten würde es Sinn machen, Mitte November zu beginnen." Der aktuelle Termin sei "nicht logisch".

Julian Schütter, ein ÖSV-Abfahrer, der sich zuletzt mit den Protestaktionen der Letzten Generation solidarisierte, schrieb in seinem Blog: "Alle, die am frühen Saisonstart in Sölden festhalten, schaden dem gesamten Sport." Die Veranstalter operierten "innerhalb eines Systems, das klimaschädliches Verhalten belohnt". US-Profi River Radamus teilte Schütters Beitrag in den sozialen Medien, dazu ein Foto von einem aperen Trainingshang in der Schweiz. Radamus plagt schlechtes Gewissen, wenn er auf dem Gletscher trainiert. Er schrieb: "Es fühlt sich nicht ganz richtig an."

Abseits der Piste sieht man viel Geröll.
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3. Der ÖSV bereitet sich auf Klimaprotest vor

Auf der Homepage des Österreichischen Skiverbands heißt es: "In Sölden beginnt der Winter bereits im Oktober." Das ist quasi Gesetz, unabhängig von Temperaturen, Wetter- oder Schneelage. Denn Sölden bringt dem ÖSV Prestige. Man ist Gastgeber für die gesamte Skiszene, seit dem Jahr 2000 findet der Auftakt in den Rennwinter im Ötztal statt. Der Event kommt gut an: Im Vorjahr kamen knapp 15.000 Zuschauerinnen und Zuschauer zu den Rennen. "Wir machen gute Events, die dem Skisport guttun", sagt ÖSV-Geschäftsführer Christian Scherer. Er befindet, Sölden nutze die Möglichkeit, "Schneekompetenz zu symbolisieren". Nach dem Motto: Schaut her, bei uns kann man ab sofort Ski fahren.

Die Arbeiten auf dem Gletscher verteidigt Scherer. Dadurch sei Risiko minimiert worden, mit entsprechenden Bewilligungen. "Wenn man die Hintergründe nicht kennt und nur die Bilder sieht, können die Bilder verstörend wirken", sagt Scherer. "Es war leider eine sehr tendenziöse Berichterstattung. Ich fand die Kritik entbehrlich."

Der ÖSV bereitet sich auf einen möglichen Klimaprotest von Aktivisten in Sölden vor. Fachleute aus dem Innenministerium berieten im Rahmen eines Workshops. "Wenn man Bedenken hat zu Veranstaltungen, kann man sich gerne mit uns austauschen", sagt Scherer. "Den Skisport als jenen hinzustellen, der die Klimaerwärmung treibe, halten wir für ein wenig übertrieben." Scherer nimmt sich für den ÖSV vor, künftig offener und besser zu kommunizieren, "um Mythen und Fakten zum Thema Wintersport geradezurücken".

4. Der Liftbetreiber in Sölden spricht von Böswilligkeit

Seit einer Woche laufen in Sölden die Schneekanonen, ein Temperatursturz machte es möglich. Zusätzlich wurde Schnee verteilt, der seit April in Depots am Rettenbachgletscher eingelagert war. Die Menge machte rund 45.000 Kubikmeter aus, was dem Volumen eines halben Gasometer-Gebäudes in Wien-Simmering entspricht. Abseits der Strecke in Sölden liegt kein Schnee, die Szenerie gleicht einer Mondlandschaft.

Jakob Falkner, Geschäftsführer der Bergbahnen Sölden und Mitglied der ÖVP-nahen "Adlerrunde", nannte die Greenpeace-Vorwürfe "böswillig". Es handle sich um "behördlich genehmigte Sanierungsarbeiten".

Aus dem Tourismusbüro Ötztal heißt es auf STANDARD-Anfrage, der Weltcup habe "enorme Bedeutung". Sölden sei der Start der gesamten Winterindustrie in Europa mit den ersten Schneebildern. "Aus Marketingsicht sind wir hier unglaublich positiv und stolz darauf. Wir sind gut gerüstet und freuen uns schon auf eine großartige, hoffentlich erfolgreiche Wintersaison", sagt man im Tourismusbüro. Dass die Region Jahr für Jahr negativ assoziiert wird mit dem großen Aufwand, den der Ski-Weltcup benötigt, wollte man nicht kommentieren.

5. Der Weltverband feiert eine Verschiebung, die keine ist

Die FIS heftet sich an die Fahnen, mit der Skisaison 2023/24 eine Woche später als im Vorjahr zu starten. Die heurigen Riesenslaloms in Sölden finden am 28. und 29. Oktober statt — der Termin ist ident mit jenem aus dem Jahr 2017.

Die FIS feiert sich also dafür, dass sie so weit ist wie vor sechs Jahren. Gleichzeitig hält sie an einem umfangreichen Weltcup-Kalender fest. Gleich zweimal reist der Weltcup-Tross der Männer nach Nordamerika: einmal im November und einmal im Februar, anstatt die Rennen in einem Trip über den Atlantik zu kombinieren.

Viele schlagen eine Verschiebung des Rennkalenders nach hinten vor: Start im November und Ende im April, um im Frühling die guten Schneebedingungen auf Gletschern für Rennen zu nutzen. Doch die FIS weiß auch: Im Frühjahr nimmt das Interesse an Skirennen rapide ab, im März sinken die TV-Quoten, Firmen zeigen weniger Bereitschaft, Rennen zu sponsern.

Die FIS strebt Wachstum an. In den kommenden Monaten sind insgesamt 90 Alpinrennen geplant — so viele wie in keinem anderen Weltcup-Winter zuvor. (Lukas Zahrer, 23.10.2023)