Junge Frau, die sich vor einem Raubüberfall im Freien schützt, indem sie effektive Selbstverteidigungsmaßnahmen anwendet.
In Selbstbehauptungskursen lernt man Techniken, um einen Übergriff handgreiflich abzuwehren. Genauso wichtig ist aber auch, einen Überblick über die Umgebung zu haben.
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Steigende Gewalt gegen Frauen, Sexualdelikte unter Jugendlichen, Messerattacken auf offener Straße: Das Jahr 2024 sparte bisher nicht mit "Jetzt ist schon wieder was passiert"-Momenten. Diese Gewalttaten werfen viele Fragen auf. Ist ein generelles Waffenverboten im öffentlichen Raum nötig? Braucht man engmaschigere Kontrollen sogenannter Hotspots? Wie gelingt der Opferschutz besser?

Aber diese Berichte haben auch ganz individuelle Auswirkungen. Bei manchen steigt das persönliche Unsicherheitsgefühl, andere werden misstrauischer. Viele stellen sich die Frage: Was würde ich im Ernstfall tun? Selbstverteidigungstechniken wie ein Stoß gegen das Nasenbein oder ein Tritt in den Schritt klingen theoretisch vielversprechend.

Aber gehört zur Selbstverteidigung zwingend körperliche Gewalt? Kann man Selbstverteidigungstechniken überhaupt in einer Stresssituation abrufen, wenn man sie nicht regelmäßig übt? Und was bringen sogenannte Selbstverteidigungswaffen wie Pfeffersprays wirklich?

Falsches Sicherheitsgefühl

"Das Wichtigste in Gefahrensituationen ist Selbstbehauptung", sagt Paul Eidenberger, Pressesprecher des Bundesministeriums für Inneres (BMI). "Täter hassen Lärm und Aufmerksamkeit. Also sollte man, wo es geht, dafür sorgen." Gerade bei Sexualdelikten habe sich gezeigt, dass lautes Schreien die Täter schnell vertreiben kann.

Bei Selbstbehauptung geht es aber nicht nur um ein selbstsicheres Auftreten und viel Lärm. Man muss Gefahrensituationen auch frühzeitig als solche erkennen. Das kann man in Selbstbehauptungskursen lernen."Das Stichwort ist Umgebungskontrolle", sagt Eidenberger. Aufmerksam bleiben und lieber einmal zu viel andere Menschen um Hilfe bitten oder in das nächstbeste Beisl gehen, rät der Polizeibeamte.

Und was bringen Selbstverteidigungswaffen? "Wer einen Gegenstand zur Selbstverteidigung bei sich trägt, fühlt sich damit sicherer, das ist prinzipiell legitim", sagt Eidenberger. Er warnt allerdings auch vor einem falschen Sicherheitsgefühl: "Ein Pfefferspray oder Ähnliches dabeizuhaben ist kein Allheilmittel. Man muss sich auch damit auskennen." Denn der ungeübte Umgang birgt ein zusätzliches Risiko: "Der Gegenstand kann auch gegen einen selbst verwendet werden. Wenn ich 30 Sekunden lang meinen Pfefferspray suche und dann nochmal so lange brauche, um ihn zu entriegeln, ist das genügend Zeit für den Täter, um mich zu entwaffnen."

Außerdem sprühen herkömmliche Pfeffersprays im Vergleich zu polizeilichen Sprühgeräten nicht in einem Strahl, sondern hinterlassen eine Kontaminationswolke. "Man steht dann auch selbst in dieser Wolke", sagt Eidenberger. Vorteil der Wolkenwirkung: Man muss nicht so genau zielen, was in einer stressigen Gefahrensituation ein großer Vorteil ist.

Und wie sieht es mit dem Telefonieren auf dem Heimweg aus, das gerade vielen Frauen Sicherheit gibt? Ist auch das ein falsches Sicherheitsgefühl? "Telefonieren hat den realen Vorteil, dass ich sofort jemanden am anderen Ende der Leitung habe, sollte etwas passieren. Daher ist wichtig, auch zu erwähnen, wo man sich gerade befindet", sagt Eidenberger. Und ergänzt: "Man sollte sich aber nicht zu sehr mit dem Telefonieren ablenken." Da ist sie wieder, die Umgebungskontrolle.

Automatisierte Reaktion

Wie man diese Umgebungskontrolle und mehr Selbstbehauptung lernt, weiß Irmengard Weckauf-Hanzal. Sie ist Geschäftsführerin und Trainerin beim Selbstverteidigungsinstitut Sami. Dort geben sie und ihr Team Selbstverteidigungskurse für Polizei- oder Justizwachebeamte, aber auch für Privatpersonen. "Die Ausstrahlung ist enorm wichtig. Man sollte trainieren, wie man verbal und mit Körpersprache Selbstsicherheit signalisiert und nicht so leicht irritierbar wirkt", sagt sie.

Und sie erklärt, auf welche Signale man achten und wie man darauf reagieren muss. "Wenn ich in einer bedrohlichen Situation zum Beispiel die Hände meines Gegenübers nicht sehe, sollte die erste Reaktion sein, wegzulaufen", sagt Weckauf-Hanzal. Möglicherweise hat das Gegenüber nämlich ein Messer dabei. Man kann zwar auch lernen, sich bei einem Messerangriff selbst zu verteidigen. "Aber das sind fortgeschrittene Techniken, die man gut und lange üben muss."

Training ist das Um und Auf. Denn in einer gefährlichen, potenziell lebensbedrohlichen Situation wird der rationale Teil unseres Gehirns, der Neokortex, in Schockstarre versetzt. Das Stammhirn übernimmt und reagiert mit den Urimpulsen: Flucht, Kampf oder Erstarren. Daher hilft alles, was man über Selbstverteidigung lernt, nur, wenn man es oft genug wiederholt hat, damit man in solchen Situationen automatisiert reagieren kann. Und so ist das eben auch mit Selbstverteidigungswaffen. "Ich muss üben, wie ich sie in einer maximalen Stresssituation richtig verwende", sagt Weckauf-Hanzal.

Kubotan nur für Geschulte

Man sollte sich außerdem damit auseinandersetzen, wie man sich verbal wehren kann. "Am besten legt man sich ein Wort zurecht, mit dem man sein Gegenüber anschreien kann. Bei mir ist das ein einfaches 'Stopp'", sagt Weckauf-Hanzal. Im Idealfall übt man auch das: jemanden ganz laut und bestimmt anschreien.

Doch was, wenn es im Ernstfall trotzdem handgreiflich wird? "Wir setzen dabei auf ein uraltes Konzept: sich mit einfachen Gegenständen wehren", erklärt Weckauf-Hanzal. Die Trainerin verwendet dafür Techniken der Kubotan-Verteidigung. Ein Kubotan ist ein kurzer, spitzer Gegenstand und sieht aus wie ein Stift. Er wird in verschiedenen Kampfkünsten als zusätzliche Waffe eingesetzt. Ihn richtig und effektiv zu verwenden erfordert aber viel Übung. "Wir ersetzen den Kubotan deshalb mit Alltagsgegenständen wie einem Schlüssel, einer Tasche oder einem Stift, also Dingen, die ich womöglich dabeihabe."

Sich mit einem Schlüssel zu wehren, geht aber nicht unbedingt leichter. Einen Schlüssel zwischen die Finger zu nehmen ist zum Beispiel keine gute Idee. "Damit verletzte ich mich maximal selbst. Ich muss einen Gegenstand richtig halten, um damit Kraft auszuüben", erklärt Weckauf-Hanzal.

Kein Grund für ein größeres Unsicherheitsgefühl

Zur stressigen Ausnahmesituation kommt bei vielen eine natürliche Hemmung, Gewalt anzuwenden, hinzu. Die meisten Menschen in Österreich waren noch nie in eine Kampfsituation involviert. Um sich mit Gewalt zu verteidigen, ist auch eine gewisse aggressive Grundhaltung nötig. Kann man lernen, diese auf Abruf zu aktivieren? "Das ist ganz unterschiedlich, auch zwischen den Geschlechtern. Männer bringen eher ein größeres Aggressionspotenzial mit. Ihnen muss dann beigebracht werden, eine Situation zu deeskalieren. Frauen sind anfangs oft zurückhaltend", weiß Weckauf-Hanzal.

"Jeder muss für sich selbst entscheiden, was man im Ernstfall bereit ist, zu tun. Es gibt keine Pauschallösung für die Selbstverteidigung", sagt auch BMI-Sprecher Eidenberger. Da kann ein Selbstverteidigungskurs oder das Erlernen einer Kampfsportart natürlich helfen. Insgesamt ist aber ein individueller Zugang nötig. Und obwohl es zuletzt vermehrt zu Gewaltvorfällen gekommen ist, entwarnt Eidenberger: "Die Kriminalstatistiken zeigen klar, dass Straßenkriminalität langfristig im Rückgang ist. Sich mit Selbstverteidigung auseinanderzusetzen, ist immer eine gute Idee. Es gibt aber keinen Grund, sich gerade jetzt auf den Straßen unsicherer zu fühlen." (Andrea Gutschi, 20.3.2024)