Junger Mann steht in der Küche und isst einen Muffin. Er hält in der Hand Teller mit weiteren Muffins
Für viele Menschen ist "ungesundes" Essen eine Belohnung, die sie sich gönnen. Das haben sie schon in der Kindheit gelernt. Es spricht auch nichts dagegen, Süßes oder Fastfood zu essen – aber es sollte in der Wertigkeit denselben Stellenwert haben wie alle anderen Lebensmittel.
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Beim Essen wird es emotional. Was man isst, wie etwas schmeckt, warum ein Trend großartig oder furchtbar ist, bringt die Konversation auch in der langweiligsten Runde (fast) immer in Fluss. Doch warum kommen beim Thema Essen so viele Gefühle auf? Wieso können simple Speisen pures Glück, tiefe Ablehnung, ausgewachsene Skepsis und ganz viel dazwischen auslösen?

Das liegt daran, dass Essen ganz stark emotional besetzt ist, das beginnt schon bei Babys, weiß die Ernährungspsychologin Irene Niedermayer. Beim Stillen oder Füttern mit dem Flascherl wird das Baby in der Regel im Arm gehalten, es bekommt Nähe und viel Körperkontakt. "Das prägt uns von klein auf und besetzt Essen sehr positiv." Aus evolutionärer Sicht ist das ja auch sinnvoll, man überlebt einfach leichter, wenn man gerne isst. Aber nicht bei allen ist Essen automatisch mit positiven, freudvollen Gefühlen verbunden. Bei so manchem ist vielmehr Stress die vorherrschende Emotion, das kann sich ausweiten auf Schuldgefühle oder sogar Ekel. Auch das beginnt schon in der frühen Kindheit.

"Babys lernen schon im ersten Lebensjahr, wie sie ihre Emotionen regulieren können", weiß Niedermayer. Sie drücken Hunger, aber auch ihr Bedürfnis nach Nähe oder Trost und Sicherheit meist durch Weinen aus. Was welches Weinen bedeutet, muss man als Eltern erst einmal verstehen lernen. "Nicht wenige Eltern reagieren aber auf all diese unterschiedlichen Bedürfnisse damit, dass sie Nahrung anbieten." Das funktioniert auch, aber es kann zwei Folgen mit potenziell problematischen Folgen haben: Das natürliche Hunger- und Sättigungsgefühl, das Babys von Geburt an mitbringen, wird gestört. Und sie lernen, sich mit Essen zu trösten.

Schlecker für die gute Note

Dazu kommt, dass Essen auch oft als Baustein in der Erziehung eingesetzt wird. "Viele Kinder werden mit Süßigkeiten belohnt dafür, dass sie brav waren oder eine gute Leistung erbracht haben. Umgekehrt kann eine Bestrafung so aussehen, dass die Nachspeise gestrichen wird", weiß Niedermayer. Daraus können sich Verhaltensmuster entwickeln, die das ganze spätere Leben prägen. Man belohnt sich etwa mit einem Stück Kuchen, wenn man sich zum Sport aufgerafft hat. Oder man tröstet sich mit dem Lieblingssnack, wenn man frustriert ist oder Liebeskummer hat.

Ein weiterer Punkt ist die emotionale Aufladung von Lebensmitteln. Ihnen werden Eigenschaften zugeschrieben wie gesund oder ungesund, gut oder böse, gut oder grauslich, erlaubt oder verboten. Obst und Gemüse sind gut, Schokolade schlecht. Oder anders ausgedrückt: Alles, was vermeintlich schlank macht, ist gut. Alles, was dick macht, schlecht. Oft können schon Kindergartenkinder gesunde oder vermeintlich gesunde Lebensmittel nennen, weiß Niedermayer. Umgekehrt bedeutet das natürlich, dass andere Lebensmittel als ganz klar ungesund gelten. Und das verstärkt das Belohnungs- und Bestrafungsdenken, das viele in ihrer Kindheit gelernt haben.

Das führt in weiterer Folge wiederum dazu, dass Menschen aufgrund ihrer Optik bewertet werden. Dicke Menschen werden als faul, undiszipliniert, langsam und unsportlich abgewertet. Sie hätten quasi bloß nicht genügend Disziplin, in Maßen zu den guten Nahrungsmitteln zu greifen. Schlank zu sein wird dagegen automatisch mit stark, dynamisch, gesund, jugendlich und Ähnlichem assoziiert.

Wir sind außerdem mit jeder Menge Werbung konfrontiert, die darauf ausgerichtet ist, uns zum Essen von Produkten zu verführen, die als nicht gesund gelten. Und schließlich ist Essen mittlerweile überall und rund um die Uhr verfügbar. "All das ist eine ziemlich vielschichtige Gemengelage", sagt Ernährungspsychologin Niedermayer. Und genau die trägt dazu bei, dass Essen für viele mit sehr viel Stress behaftet ist. Das kann zu gestörtem Essverhalten bis hin zu ausgewachsenen Essstörungen führen.

Teufelskreis Diät

Ein unentspanntes Verhältnis zum Essen muss aber nicht gleich eine Essstörung bedeuten, bleiben wir bei klassischen Diäten. Man muss nicht massiv Übergewicht haben, um schon einmal den Wunsch verspürt zu haben, ein paar Kilos abzunehmen. Geht auch leicht, denkt man sich, man isst einfach ein bisschen disziplinierter für einen gewissen Zeitraum, und schon ist es erledigt. Doch wenn man wirklich ehrlich ist sich selbst gegenüber, zeigt sich, dass es in den seltensten Fällen auch wirklich funktioniert, Diäten scheitern zu einem ganz großen Prozentsatz. Also sie funktionieren schon, für ein paar Wochen oder Monate. Das Ziel so einer Übung – und auch die Kunst – wäre es aber doch, langfristig das angepeilte Gewicht zu halten. Nach ein oder zwei Jahren haben aber die allermeisten Personen wieder ihr Ausgangsgewicht – oder sogar noch mehr.

Auch dafür ist ein wesentlicher Grund in der Psyche zu suchen. Diäten oder auch eine vermeintlich gesunde Ernährung funktionieren ja nach einem bestimmten Plan. Und schafft man es aus irgendeinem Grund nicht, den einzuhalten, kann eine Art Eh-schon-wurscht-Gefühl entstehen, erklärt Niedermayer: "Hat man mehr Chips, Fastfood, Süßigkeiten oder was auch immer gegessen als geplant, denkt man sic: Heut ist es schon egal." Dann langt man womöglich so richtig zu und überisst sich bis hin zur Fressattacke. Darauf folgen unweigerlich schlechtes Gewissen und Schuldgefühle. Das wirkt sich dann wiederum negativ auf das Selbstwertgefühl aus, weil man hat es ja nicht geschafft zu widerstehen. "So entsteht ein regelrechter Teufelskreis."

Wunsch nach Kontrolle

Übermäßige Selbstdisziplin dagegen ist auch nicht unbedingt das Ziel, die kann genau so krank machen. In den vergangenen Jahren hat sich ein neues Krankheitsbild entwickelt, die Orthorexie. Betroffene beschäftigen sich intensiv mit vermeintlich gesunder, natürlicher, biologischer Ernährung und versuchen fast zwanghaft, alles, was als ungesund gilt, zu vermeiden. Die Definition von "gesund" und "ungesund" wird dabei immer strikter. Noch ist das Problem nicht als eigenständige Essstörung anerkannt, auch wenn viele Expertinnen und Experten es als solches einordnen. Doch Betroffene sind, je nach Ausprägung, in ihrer Lebensqualität massiv eingeschränkt. Ein simples Event wie Mittagessen gehen kann für sie zum wirklichen Problem werden.

Doch nicht immer muss es sich bei etwas speziellerem Essverhalten gleich um eine Essstörung handeln. Auch manche Essensrichtlinien wie das Weglassen bestimmter Inhaltsstoffe oder strikter Veganismus können zeigen, wie emotional Essen behaftet ist. Dabei gibt es viele gute Gründe, sich auf eine bestimmte Art zu ernähren. Viele Menschen vertragen etwa nachweislich keine Laktose und lassen deshalb Milchprodukte weg. Oder Tiere und Umwelt liegen einem am Herzen, weshalb man auf Produkte verzichtet, die ihnen schaden oder Leid verursachen.

Aber dahinter steckt auch, dass man die Kontrolle behalten will. "Mit klaren Regeln, wie man sich ernährt, hat man in einer Welt, in der vieles außerhalb der eigenen Kontrolle liegt, zumindest das Gefühl, selbst die Kontrolle zu behalten", weiß Niedermayer. Das kann im besten Fall wirklich Positives für den Planeten bewirken. Im schlimmsten Fall kann es zu einer massiven Magersucht führen, weil man überstreng kontrolliert, was auf dem eigenen Teller landet.

Essen und Selbstwert

Geht mich alles nichts an, ich ernähre mich so, wie ich will, könnte man nun sagen. Doch Tatsache ist, dass kaum jemand ein völlig entspanntes Verhältnis zum Essen hat, weiß Niedermayer. "Es gibt in diesem Bereich so viele Glaubenssätze, und wir Menschen wollen Dinge einfach auch richtig machen." Es gibt etwa Untersuchungen, die zeigen, dass in Bürokantinen Menschen darauf achten, was die Führungskräfte essen. Greift der Chef zum Beispiel vorwiegend zum Salat, fühlen sich manche bemüßigt, ebenfalls etwas Gesundes zu essen – obwohl sie eigentlich Lust auf ein Schnitzel haben.

Sonst kann nämlich ein unbewusstes Gefühl entstehen, dass man etwas falsch macht. Umgekehrt wollen sich manche diesem vermeintlichen "Gruppenzwang" nicht unterwerfen. Doch anstatt einfach entspannt das zu essen, worauf sie Lust haben, erklären sie ihrem Umfeld, dass ihre Art, sich zu ernähren, Blödsinn ist. Das kann beim Salat in der Kantine sein, viel häufiger beobachtet man es aber in der weitverbreiteten Aufgeregtheit rund um die gerade bei jungen Menschen beliebte vegane Ernährungsweise. "Manche Menschen fühlen sich durch die vegane Lebensweise anderer infrage gestellt in ihren Lebensentscheidungen", erklärt Niedermayer.

Das kann Einfluss auf den eigenen Selbstwert haben, weil man eben unbewusst das Gefühl bekommt, nicht alles richtig zu machen. Immerhin ist den meisten mittlerweile klar, dass übermäßiger Fleischkonsum weder für die Tiere noch auf die Umwelt positive Auswirkungen hat. "Manche versuchen dann, ihren Selbstwert aufrechtzuerhalten, indem sie die Ernährungsweise der anderen abwerten oder lächerlich machen." Insgesamt sagt so eine Reaktion aber wenig über die Sinnhaftigkeit der veganen Lebensweise aus, dafür umso mehr über die Fähigkeit zur Selbstreflexion jener Person, die die Kritik äußert.

Aufs Bauchgefühl hören

Aber wie kann ein guter Zugang zu Ernährung nun aussehen? Niedermayer arbeitet mit einem intuitiven Zugang: "Es geht darum, auf den eigenen Körper zu hören. Der gibt uns eigentlich ganz gute Signale, was er braucht und was ihm guttut." Die Kunst ist, diese Signale zu erkennen, das müssen viele ein Stück weit neu lernen. Das kann etwa gelingen, indem man bewusst in sich hineinspürt und das eigene Hungergefühl ergründet: "Ist das, was ich verspüre, wirklich physischer Hunger? Oder steckt eher ein Frustgefühl, Angst oder Ärger dahinter?"

Schafft man es, das zu erkennen, kann man sich andere Strategien zurechtlegen, um mit diesen Gefühlen umzugehen. Ein Telefonat mit einer Freundin etwa, ein kurzer Spaziergang im Park oder Ähnliches. "Es geht einfach darum, den Autopiloten auszuschalten und wieder selbst die Verantwortung zu übernehmen." Das gilt auch für Glaubenssätze hinsichtlich vermeintlich gesunder Lebensmittel. Vollkornbrot ist ein gutes Beispiel, das wird vor allem in deutschsprachigen Raum als das Nonplusultra angesehen. Es ist aber auch schwer verdaulich, und nicht alle vertragen es.

Klingt in der Theorie alles sehr einfach – in der Praxis scheitern die meisten aber immer wieder daran. Darum sollte man versuchen, den Stress zu minimieren. Was richtig und falsch ist, entsteht auch durch die eigene Bewertung. Dabei brauchen wir gar keine Zuschreibungen. Niedermayer betont: "Unser Körper weiß ziemlich genau, was ihm guttut und was nicht, wann er wirklich Hunger hat und was eher ein Gusto ist. Wenn wir wirklich darauf vertrauen, dass wir das nötige Wissen für eine gute Ernährung in uns tragen, dann brauchen wir auch keine Regeln mehr." (Pia Kruckenhauser, 23.3.2024)