Zwei Frauen in Klinikkleidung udn Mundschutz gießen Muttermilch in Flaschen
Mütter spenden überschüssige Milch für Frühchen und andere Babys, die sie brauchen. In der Humanmilchbank in der Klinik Floridsdorf werden die Spenden verarbeitet.
Martina Leising

Normalerweise habe sie rund 200 Liter lagernd. Derzeit sind es aber nur 50. "Solche Flauten gibt es immer wieder. Seit Anfang des Jahres ist irgendwie der Wurm drin, und wir wissen nicht, warum." Martina Leising geht bestimmten Schrittes in das erste Untergeschoß der Klinik Floridsdorf. Dort ist seit 2019 die Humanmilchbank angesiedelt, für die Diätologin Leising verantwortlich ist.

Zuvor hatte die Humanmilchbank ihren Sitz in der Semmelweis-Frauenklinik und hieß Frauenmilchsammelstelle. Der alte Name beschreibt noch heute ihre Aufgabe: Sie sammelt Milch von Frauen, die zu viel Milch produzieren, und verteilt sie an Mütter, die selbst zu wenig Milch haben oder deren Kinder als Frühchen auf die Welt kommen.

Mysterium Muttermilch

Neben der Tür mit der Aufschrift Humanmilchbank hängt eine lange Zutatenliste. Sie enthält über 300 Stoffe, die in Humanmilch zu finden sind, verschiedenste Fette, Mineralstoffe und Vitamine. Zum Vergleich sind daneben die Zutaten einer Formula, also Muttermilchersatz, aufgelistet. Die Liste ist gerade einmal ein Fünftel so lang.

Muttermilch hat viele Vorteile gegenüber Formula: "In Frauenmilch sind unglaublich viele Stoffe und Antikörper, die für die kindliche Entwicklung essenziell sind. Und je früher das Kind geboren wird, desto wichtiger sind diese Zutaten", sagt Leising. Die Muttermilch schafft außerdem etwas, das Formula niemals kann: Sie verändert sich während des Stillens. Zuerst kommt der flüssige Anteil, um den Durst zu stillen, dann der nährstoffreiche Anteil.

Dazu kommt ein präventiver Effekt, erklärt Klaudia Graf-Rohrmeister, ärztliche Leiterin der Humanmilchbank: "Muttermilch schützt vor akuten Erkrankungen in den ersten Lebensmonaten." Milch aus der Brust senkt zum Beispiel das Risiko einer nekrotisierenden Darmerkrankung, die bei Säuglingen als fast sicheres Todesurteil gilt. "Außerdem ist sie eine natürliche Impfung, weil Antikörper weitergegeben werden. Sie reduziert außerdem das Infektionsrisiko und fördert die Hirnentwicklung."

Muttermilch fasziniert die Wissenschaft schon lange, die seit über 400 Jahren ihre Zusammensetzung erforscht. Und immer noch gibt es neue Erkenntnisse, zum Beispiel, dass Muttermilch die Intelligenz des Kindes beeinflusst. "Die Sicherheit und Wirksamkeit ist aber schon lange bewiesen", sagt Graf-Rohrmeister. Muttermilch zu imitieren werde dennoch nie gelingen. "Es gibt nicht die eine Zusammensetzung, die Milch unterscheidet sich von Frau zu Frau und verändert sich auch in der Brust, es gibt sogar tagesübliche Schwankungen."

Solche individuellen Anpassungen gehen zwar verloren, wenn die Milch gespendet und in der Humanmilchbank pasteurisiert wird. "Aber das sind Nuancen. Frauenmilch hat immer eine einzigartige Nährstoffzusammensetzung, die den Magen-Darm-Trakt und das Immunsystem schützt und stärkt", sagt Graf.

Pulver in die Welt

Dass Säuglinge, die Milch von der Mutter oder einer Amme bekommen, bessere Überlebenschancen hatten, sprach sich auch im Wien des frühen 20. Jahrhunderts herum. Zu diesem Zeitpunkt gab es künstliches Milchpulver auf Kuhmilchbasis schon seit rund 30 Jahren. Dessen Qualität ist allerdings nicht zu vergleichen mit den Formula-Nahrungen von heute. Und die Wirkung kam nicht an Frauenmilch heran, das bezeugten die Säuglingssterblichkeitsraten.

1908 wurde in Wien erstmals Frauenmilch gesammelt. Damit war die weltweit erste Humanmilchbank geboren. Das erste Produktionshoch erreichte die Stadt in der Nachkriegszeit: Damals wurden jährlich 20.000 Liter verkauft. Wien pflegte auch intensive Handelsbeziehungen, bis heute gibt es Handelsbriefe und Dankschreiben, etwa aus Israel. "Die liegen bei mir im Schrank", sagt Leising stolz.

In einer Vitrine im Vorraum der Humanmilchbank steht noch ein weiteres Relikt aus dieser Zeit. Bis man begonnen hat, die Milch zu pasteurisieren, galt die Verarbeitung zu einem Trockenpulver als die sicherste Art, um die Milch frei von Keimen zu halten. Verkauft wurde es in dunkelblauen Tuben, so eine steht in der Vitrine. "Frauenmilch, 1/4-Liter" steht darauf. "Da ist noch das Originalpulver drinnen, das traue ich mich gar nicht aufzumachen", sagt Leising.

Frau in Schutzkleidung steht vor Kühlung mit Milchflaschen
Die Milch wird auf Pathogene untersucht und dann pasteurisiert. Dann wird sie in Fläschchen zu 50 oder 250 Milliliter tiefgefroren.
Martina Leising

Heute wird die Milch nicht mehr als in Tuben verpacktes Pulver verkauft. Stattdessen werden 50- oder 250-Milliliter-Fläschchen ausgeliefert. Und es gibt noch einen Unterschied zu früher: Die Frauen verstauen ihre abgepumpte Milch heute zu Hause im Tiefkühlschrank. Tiefgekühlt ist sie sechs Monate haltbar und muss nicht jeden Tag abgeholt werden, damit sie nicht sauer wird.

Ab und zu wird die Milch aber dennoch frisch geholt. "Wir hatten einmal eine Französin, die zwei Tage auf einem Kongress in Wien war. Sie hat schon in Frankreich gespendet und wollte nicht unterbrechen. Also hat sie vor Ort abgepumpt, und wir haben jeden Tag die Milch frisch aus dem Hotel geholt", erzählt Leising.

Reinheitsgebot wie beim Bier

Wenn die Spenden in der Humanmilchbank ankommen, gibt es für sie ein eigenes Lager. Dort stehen fünf Tiefkühlschränke mit einzelnen Schubladen. Auf jeder Schublade mit Fläschchen klebt außen Name und Abpumpzeit der Spenderin. "Jede Frau bekommt eine ID-Nummer, der Name spielt dann im weiteren Prozess keine Rolle mehr. Wir können aber alles zurückverfolgen", sagt Leising.

Für die Humanmilchbank gilt das Lebensmittelgesetz. Die ankommende Milch wird daher ganz genau geprüft und zunächst bei minus 20 Grad unter Quarantäne gestellt, bis ein Laborbefund der Stichproben grünes Licht gibt. Das ist der erste Kontrollpunkt.

Wenn die Bakteriologie der Stichprobe unauffällig ist, kann die Milch weiterverarbeitet werden. "Das ist aber relativ unspektakulär. Wir haben einen Topf, mischen die Milch von zwei bis drei Spenderinnen zusammen, rühren einmal durch, das war's", sagt Leising. Das passiert in der sogenannten Milchküche. Dort sind gerade Kolleginnen von Leising am Werk, sie tragen OP-Gewand, Mund-, Nasen- und Haarschutz. Auch als Besucherin muss man entsprechend von oben bis unten Schutzkleidung tragen.

In der Milchküche macht man mit den aufgetauten Milchspenden auch einen Geruchstest. "An der Milch riecht man zum Beispiel sofort, ob die Mutter geraucht hat. Das ist ein Ausschlusskriterium", sagt Leising. Auch Ananassaft, Knoblauch oder Zwiebel hinterlassen deutliche Geruchsspuren in der Milch. "So etwas filtern wir aber nicht raus, das verflüchtigt sich, wenn die Proben gemischt werden."

20 bis 25 Prozent der Spenden können nicht verwendet werden, weil die Mutter ein bestimmtes Medikament genommen hat oder sich aufgrund einer schlechten Vorbereitung der Brust oder einer beginnenden Brustwarzenentzündung Bakterien in der Milch befinden. "Die Milch wird an mehreren Stufen geprüft. Wir müssen das machen, wir haben ein Reinheitsgebot wie beim Bier", sagt Leising. Aussortierte Spenden kommen dann aber der Forschung zugute, auch das wissen die Frauen.

Was bakteriell unbedenklich ist, wird dann pasteurisiert, heruntergekühlt und erneut im Tiefkühler gelagert. Noch ein letzter Labortest, dann können die Milchfläschchen ausgeliefert werden. Bis zu 30 Liter Milch werden so täglich produziert.

Unendliche Nachfrage

Als Leising vor vier Jahren zur Humanmilchbank gekommen ist, wurden circa 850 Liter pro Jahr produziert. Mit dem Umzug wurde der Prozess professionalisiert. Vergangenes Jahr waren es bereits 2.800 Liter, die von 234 Spenderinnen gekommen sind. Abgeholt wird in einem Radius von 180 Kilometern um Wien. "Damit kommen wir ins Waldviertel und fast bis nach Graz", sagt Leising.

Es gibt keine Mindest- oder Maximalmengen. "Bei manchen holen wir 800 Milliliter pro Woche ab. Andere Frauen haben wirklich viel zu viel, da sind es zehn Liter", sagt Leising. Viele haben auch nur anfangs einen Milchüberschuss, wenn das Kind noch nicht so viel trinkt.

Leising und ihr Team sind dankbar für jeden Milliliter. Denn die Nachfrage ist riesig. Als einzige Humanmilchbank im deutschsprachigen Raum verkaufen die Floridsdorfer die Milch nicht nur um circa 42 Euro pro Liter an Spitäler, sondern auch an Privatpersonen. Im Privatverkauf beträgt der Literpreis 7,30 Euro.

Generell gehen etwa zwei Drittel an die Spitäler, ein Drittel in den Privatverkauf. "Wir müssen den Privatverkauf aber immer wieder stoppen, weil die Nachfrage aus den Spitälern so groß ist oder wir zu wenig Spenden haben", sagt Leising. Für Notfälle, wenn ein Baby zum Beispiel ausschließlich Frauenmilch verträgt, gibt es aber auch im Privatbereich keinen Stopp. "Je unreifer ein Kind geboren wird, desto höher steht es auf unserer Prioritätenliste. Dabei haben wir einen Auftrag in Wien, den wir zuerst erfüllen müssen. Erst wenn hier alle Frühchen versorgt sind, können wir Spitäler in anderen Bundesländern oder in Deutschland beliefern."

Wenn genug da ist, gibt es keine Beschränkungen. Vergangenen Dezember machte sich der Georgier Denis aus Tiflis auf den Weg nach Wien, erzählt Leising. Sein Kind lag als Frühchen auf der Intensivstation, die Mutter hatte selbst nicht genug Milch. Weil es in Georgien keine Humanmilchbank gibt, hat er sich hier acht Liter Frauenmilch gekauft, um sein Kind in den ersten kritischen Wochen zu versorgen.

Produktion von zu Hause aus

Für den Kauf ist immer eine ärztliche Zuweisung nötig. Die ärztliche Leiterin Graf-Rohrmeister überprüft die Zuweisungen und ist für eine gerechte Verteilung verantwortlich. "Es gibt keinen Grund, warum ein Neugeborenes beziehungsweise ein Säugling keine Frauenmilch bekommen sollte. Aber weil wir nicht unendlich viel Milch haben, müssen wir triagieren."

Ein großer Teil der Spenderinnen sind Frauen, die ein Frühchen geboren haben, das auf der Intensivstation versorgt wird und nicht so viel trinkt. Sie spenden ihre überschüssige Milch und tun das oft auch noch, wenn es dem Kind besser geht. Umgekehrt wollen manche Mütter mit Frühgeborenem, das auf der Intensivstation Milch einer anderen Frau bekommen hat, etwas zurückgeben und spenden dann selbst, sobald ihr Körper Milch produziert.

Mittlerweile kommen auch viele Frauen über das Internet zur Humanmilchbank. Man findet sie auch auf Social Media, auf Instagram und Facebook. "Man kann sich ganz unverbindlich bei uns melden. Auf der Homepage kann man schon vorab das Spenderinnenblatt herunterladen, das machen auch die meisten", sagt Leising.

Porträt von Martina Leising
Martina Leising leitet die Humanmilchbank in der Klinik Floridsdorf. Die Milchspende ist ein unendlich wichtiger, altruistischer Akt der Frauen, betont sie.
Gesundheitsverbund/Matern

Man bekommt dann die Fläschchen zur Verfügung gestellt oder füllt die Milch zu Hause in Plastikbeutel. Da mit dem Abpumpen die Produktion eines Lebensmittels startet, gibt es strenge Hygienevorschriften für zu Hause. So soll zum Beispiel nach dem Duschen ein separates Handtuch für die Brust verwendet werden.

Ungeprüfte Schwarzmarktmilch

Seit ihrem Bestehen ist die Humanmilchbank durchgehend geöffnet, auch während des Umzugs, auch während der Covid-Pandemie. "Der Betrieb ging normal weiter, nur bei der Abholung haben wir zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen getroffen", sagt Leising. Dass die Humanmilchbank in knapp 120 Jahren nicht einmal geschlossen hatte, ist eine Besonderheit. Weltweit haben viele Sammelstellen in den 70er-Jahren mit dem Aufkommen von HIV und einem vermehrten Vertrieb von Babynahrung nämlich zugesperrt, manchmal für immer.

Wie stark die Tradition der Humanmilchspende in Österreich verankert ist, verrät auch ein Blick nach Deutschland: Dort werden jährlich offiziell rund 4.000 Liter produziert. Zur Erinnerung: Allein in Floridsdorf liegt man bei 2.800 Litern. Das liege daran, dass das System dort anders organisiert ist, die Finanzierung läuft meist über Vereine. In Wien dagegen trägt die Stadt die komplette Finanzierung, das ist ihr ein großes Anliegen.

Aufgrund dieser anderen Organisation hat sich außerdem in Deutschland ein gewisser Schwarzmarkt entwickelt. Muttermilch wird öfter im Internet verkauft als an Einrichtungen gespendet. Auch in Österreich bieten Privatpersonen Muttermilch auf diversen Plattformen zum Verkauf an. Dort wird der Liter schon einmal um 80 Euro vertrieben. "Man muss sich aber dessen bewusst sein, dass man dort ungeprüfte Milch kauft, die alles beinhalten kann, was einem Kind schaden könnte", sagt Leising.

Altruistischer Akt

Das Spenden der eigenen Milch ist vor allem ein altruistischer Akt. Denn das Abpumpen der Milch ist eine immense körperliche Leistung. "Die Milch rinnt nicht einfach heraus. Das ist ein aktiver Prozess und wahnsinnig kraftraubend", sagt Ärztin Graf-Rohrmeister.

Es gibt auch keinen finanziellen Anreiz, die Frauen erhalten lediglich eine Entschädigung von 2,30 Euro pro Liter Milch. Das ist auch deshalb wichtig, weil die Milch nicht kommerziell verwendet werden und das eigene Kind nicht unter der Spende leiden darf. "Die Frauen machen es vor allem aus Nächstenliebe." Aber man könnte über andere Anreizsysteme und Abgeltungen nachdenken, etwa die Anrechnung der Spendezeit auf die Pension, findet Leising.

Am Ende des Jahres bekommen die Spenderinnen ein Dankesschreiben, das bedeutet Leising und den Müttern wirklich viel: "Die Milch ist so wertvoll, und die Frauen, die spenden, leisten Unglaubliches. Das wollen wir damit ausdrücken." (Andrea Gutschi, 14.4.2024)