Polizisten
Die Täter gelangen zuerst an die Wohnadressen der Opfer oder machen ihren Standort ausfindig, um daraufhin einen Polizeieinsatz auszulösen.
Heribert Corn

Verbrochen haben sie nichts – dennoch stehen plötzlich schwerbewaffnete Politzisten vor der Tür, während sie ein Computerspiel über die Plattform Twitch streamen. Zuvor war ein Anruf in der Polizeizentrale eingegangen, der zum anschließenden Einsatz führte. Als "Swatting" wird diese spezielle Form des Onlinemobbings bezeichnet, bei der Internettrolle die Polizei mit falschen Hinweisen zu ihren Opfern schicken und sie so psychisch unter Druck setzen. Eine gemeinsame Recherche des Magazins "Spiegel" und des ARD-Politikmagazins "Kontraste" legt nun ein hinter solchen Aktionen stehendes Netzwerk offen. Mit alarmierenden Zahlen.

Abgeordnete und Streamer als Opfer

Die besagte Gruppierung aus Internettrollen bezeichnet sich selbst als "New World Order" (NWO). Insgesamt haben die Redaktionen 75.000 interne Chatnachrichten und Tonaufnahmen aus einem Zeitraum von sechs Jahren ausgewertet. Unter anderem fanden sich dabei zwei Dateien, welche Telefonnummern und Privatanschriften von 77 aktuellen oder ehemaligen Landtagsabgeordneten aus Niedersachsen und Rheinland-Pfalz enthielten. Im September 2023 wurden per Notruf zahlreiche angebliche Vorfälle bei den Abgeordneten gemeldet – eine den Medien vorliegende Aufzeichnung deutet darauf hin, dass die Gruppierung diese Angriffe plante und koordinierte.

Besonders Streamerinnen und Streamer sind aber im Visier derartiger Gruppen: Das Institut für Sicherheit und Datenanalyse im Streaming (ISDS) setzt sich gegen derartige Angriffe ein und hat im Februar 1048 Streamer auf der Plattform Twitch gezählt, die im Visier der NWO gelandet sind, 132 Twitch-Streamer waren in den vergangenen 26 Monaten Opfer von Swatting. Die Dunkelziffer dürfte höher sein. Andere Opfer sind auch Lehrkräfte oder eben Politiker: Ende 2018 postete ein 20-Jähriger 993 Dokumente von Abgeordneten des Deutschen Bundestags und ehemaligen Politikern, in denen teilweise ihr Privatleben bloßgestellt wurde.

Umringt von 30 Polizisten

In den Medienberichten wird das Beispiel der Streamerin Lola genannt, die während einer Hafenrundfahrt in Hamburg Opfer eines Swatting-Angriffs wurde, plötzlich war sie von rund 30 Polizisten umringt, die teils mit Maschinenpistolen bewaffnet waren. Ein anonymer Anrufer hatte zuvor bei der Polizei gemeldet, dass sie den Kapitän des Schiffs mit einem Messer angreifen wolle.

Meist bleibt sie bei Streams in Bewegung und verrät ihren Aufenthaltsort nicht – aus Angst vor ebensolchen Angriffen. Trotzdem finden die Täter oft ihren Standort heraus: Allein in den vergangenen zwei Jahren habe sie schon rund 30 solcher Swatting-Einsätze erlebt, wird die Streamerin im Bericht des "Spiegel" zitiert.

In anderen Fällen kommt es nicht zu Polizeieinsätzen, sondern es werden den Opfern massenhaft Pizzen nach Hause geschickt, um zu zeigen: Wir wissen, wo du wohnst. Der "Spiegel" nennt auch Fälle von Grabschändungen und Stalking, die Teil des Onlinemobbings solcher Gruppen sind.

Der STANDARD beobachtete Ende 2022 eine Gruppe auf dem Messengerdienst Telegram, wobei das Mobbing gegen den Streamer mit dem Pseudonym "Drachenlord" koordiniert wurde: Er hat seinen ursprünglichen Wohnort inzwischen aufgegeben, nachdem die Belästigungen unerträglich geworden waren.

Insider packt aus

Erstmals haben die Redaktionen auch ein ehemaliges Mitglied befragt: Er möchte anonym bleiben, da er Racheaktionen der ehemaligen Mitstreiter ebenso wie eine Strafverfolgung fürchtet. Über einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren habe er bis zu drei Swatting-Versuche pro Woche begangen, sagt der Insider. Das Ziel der Mitglieder sei es, die Opfer "sadistisch zu ärgern", ins Visier könne praktisch jeder geraten. Man ergötzt sich daran, Leben zu zerstören. In einem Fall rühmt sich die Gruppe damit, dass das Jugendamt einem Vater das Kind weggenommen habe. Zunehmend werden auch Menschen mit geistigen und psychischen Beeinträchtigungen ins Visier genommen.

Dem ehemaligen Mitglied zufolge greift die Gruppe auch indirekt auf das deutsche polizeiliche Fahndungssystem Polas zu, um an die Adressen ihrer Opfer zu kommen. Dazu rufen sie unter falscher Telefonnummer in Polizeidienststellen an und geben sich als Kollegen aus, die auf das System gerade nicht zugreifen können, aber für einen aktuellen Einsatz dringend eine Auskunft benötigen. In einer vorliegenden Aufnahme ist zu hören, wie ein echter Polizist daraufhin bereitwillig Auskunft gibt. Dabei handelt es sich um eine "unzulässige Datenübermittlung", heißt es aus dem Polizeipräsidium. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.

Darknet, Paypal und eine staatliche App

In anderen Fällen werden Daten aus dem Darknet gekauft. Genannt wird außerdem ein Fall, in dem ein Angestellter Zugriff auf die Datenbank des Payment-Anbieters Paypal bekam und so die Adressen von Onlinestars an das Netzwerk weiterreichen konnte. Der damals 19-jährige Täter arbeitete nicht einmal bei Paypal selbst, sondern bei einem Auftragnehmer.

Außerdem dürften viele Angriffe ausgerechnet über eine staatliche App ausgelöst worden sein: die Nora-App, über welche Menschen mit Behinderungen schnell Notrufe absetzen können. Die Recherchen der Medien zeigen, dass die NWO diese App bereits seit Jahren missbraucht. Im September wurde die App aus den Stores genommen, um sie technisch zu überarbeiten und Missbrauch zu verhindern.

Bombendrohungen

Auch soll die Gruppe laut Recherchen von "Kontraste" und "Spiegel" für die Serien an Bombendrohungen verantwortlich sein, die sich an öffentliche Einrichtungen wie Schulen richtete. Mindestens 70 digitale Drohschreiben wurden damals verschickt, in denen sich die Trolle teils als militante Islamisten ausgaben. Ermittelt wird nun wegen Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten. Zwei Verdächtige im Alter von 19 und 30 Jahren wurden gefasst, ein dritter Komplize ist noch nicht identifiziert.

Dem Bericht des "Spiegel" zufolge freute man sich in den Gruppen damals über die Medienaufmerksamkeit und darüber, wie einfach die Aktion umzusetzen war. Kurz davor hatte man versucht, einen Angriff radikaler Israelis zu simulieren. Auch wenn dies willkürlich wirken mag, ist rechtsextreme Kommunikation in den Gruppen keine Seltenheit: Die Mitglieder der NWO begrüßen einander mit "Sieg Heil" und verwenden NS-Codes. Angriffe gab es auch auf die Comedy-Autorin und Anti-Rassismus-Aktivistin Jasmina Kuhnke, nachdem sich diese zuvor regelmäßig auf X, vormals Twitter, geäußert hatte.

Zum erweiterten Kreis der NWO gehören dem Insider zufolge 200 Anhänger, der harte Kern bestehe jedoch aus weniger als zehn Personen. Diese Zahl deckt sich mit den Chatauswertungen der beiden Medien. Wen sie es als Nächstes ins Visier nimmt, lässt sich angesichts der scheinbaren Willkürlichkeit schwer vorhersagen: Das Ziel der Gruppe dürfte auch sein, mit möglichst geringem Aufwand einen möglichst hohen Schaden zu verursachen. (red, 11.4.2024)