Zwischen dem Westen und Russland ist die Sache klar. Seit dem Angriff auf die Ukraine haben die westlichen Staaten, zu denen neben der EU und den USA etwa auch Australien, Kanada oder Japan gehören, eine Reihe von Sanktionen gegen Russland erlassen. Der Export von Technologiegütern ist untersagt worden, das Vermögen der russischen Zentralbank wurde eingefroren, und viele Länder kaufen kein Öl und Gas mehr aus Russland.

Allerdings hat man von Washington über Brüssel bis nach Tokio recht schnell feststellen müssen, dass der Westen nur einen Bruchteil der Staatengemeinschaft repräsentiert. Ein Großteil der Länder sah und sieht keinen Grund, Russland zu meiden, Krieg hin oder her. Die wichtigste und interessanteste Rolle dabei nehmen wohl allein wegen ihrer Größe Indien und Brasilien ein (China steht Russland ohnehin deutlich näher). Beide Länder wollen gute Beziehungen zu den USA und der EU unterhalten, aber von Sanktionen nichts wissen. Von Indiens engen Verbindungen zu Russland war hier bereits die Rede.

Diese Woche konnten Besucher aus Österreich im Rahmen einer Delegationsreise nach Brasilien einen Einblick in den Zugang des Landes zum Krieg in Europa bekommen. Wirtschaftsminister Martin Kocher (ÖVP) reist aktuell durch Brasilien und Argentinien und wirbt für engere Wirtschaftsbeziehungen zu Österreich. Am Rande der Gespräche war unter Intellektuellen, Ökonomen und Wirtschaftstreibenden auch das Verhältnis zu Russland ein Thema.

4600 Prozent plus

Dieses ist, zumindest was die wirtschaftlichen Verbindungen betrifft, zuletzt deutlich enger geworden. Russland und Brasilien waren bisher vor allem im Agrargeschäft eng verwoben: Russland exportierte Düngemittel nach Brasilien, aus dem südamerikanischen Land kamen Fleisch und Soja sowie Zucker retour.

Im vergangenen Jahr jedoch sind Russlands Erdöl- und Dieselexporte nach Brasilien durch die Decke gegangen. Allein das Volumen der Dieselausfuhren stieg um 4600 Prozent, jenes von Öl um 300 Prozent. Brasilien hat die Türkei als größter Importeur von Diesel aus Russland überholt. 5,3 Milliarden Dollar (fünf Milliarden Euro) flossen im vergangenen Jahr aus Brasilia Richtung Kreml, nach nur 1,1 Milliarden im Jahr davor. Brasilien hat damit die EU zum Teil ersetzt: In Europa sind Dieseleinfuhren aus Russland ebenso untersagt wie der Import von russischem Pipelineöl.

Wenn Putin spricht, hören sie noch zu: Brasiliens Lula, Chinas Staatschef Xi Jinping, Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa, Indiens Premier Narendra Modi sowie Russlands Außenminister Sergej Lawrow bei einem Treffen der Brics-Staaten im vergangenen Jahr.
AFP/PHILL MAGAKOE

"Brasilien will einerseits die Rolle als Vermittlerland zwischen den Kriegsparteien einnehmen", sagt der Ökonom José Luís da Costa Oreiro von der Universität Brasilia zu der Entwicklung. "Ein Vermittler kann sich auf keine Seite stellen, das liegt ja auf der Hand." Vor allem gehe es Brasilien aber um handfeste wirtschaftliche Interessen. Seitdem die staatliche Düngemittelindustrie in den 1990er-Jahren im Zuge einer Liberalisierungswelle zugesperrt wurde, importiert Brasilien seine Düngemittel aus Russland. Das sei für Brasilien mit seiner großen Landwirtschaft enorm wichtig, rund sieben Prozent trägt der Sektor zur Wirtschaftsleistung bei. Zum Vergleich: In Österreich ist es rund ein Prozent.

Nun kämen eben Diesel und Öl hinzu, da Russland beides mit Abschlägen verkaufe, was Brasiliens Haushalten und Unternehmen Geld spare. Aber führt das zu gar keinen Diskussionen im Land, schließlich finanzieren diese Milliarden Putins Krieg? "Der Krieg in der Ukraine interessiert hier niemanden. Für die Leute ist das einfach zu weit weg", sagt Costa Oreiro. Was viel mehr emotionalisiere, sei der Krieg im Gazastreifen. Nachsatz: "Die Ukraine kann sich wehren, die Menschen in Gaza nicht."

Was aus brasilianischer Sicht ohnehin bedeutender sei: Das Land hinke Industrieländern immer noch hinterher. Bei seinen aktuellen Wachstumsraten werde Brasilien noch in 50 Jahren nicht auf dem Niveau Portugals sein. Zur Veranschaulichung: Brasiliens Wirtschaftsleistung pro Kopf liegt bei rund 17.000 Dollar, in Österreich sind es um die 70.000 – diese Rechnung berücksichtigt die unterschiedliche Kaufkraft.

Einwirken, ohne zu belehren

Eine Vertreter der EU-Kommission in dem südamerikanischen Land bestätigt diese Sicht: Brasilien sehe sich als Land auf dem Weg nach oben, das sich an keine Seite binden und wirtschaftlich von Russland und dem Westen profitieren wolle. Westliche Belehrungen helfen da auch wenig. Die EU versuche für ihre Positionen zu werben, indem sie kleine Länderdelegationen nach Brasilien bringe, etwa aus den baltischen Staaten, um über ihre Erfahrungen mit der Bedrohung durch Russland zu berichten.

Wie viel Eindruck das hinterlässt, bleibt fraglich. Brasiliens Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva hat Russlands Präsidenten Wladimir Putin im vergangenen Jahr mehrmals eingeladen, trotz eines aufrechten Haftbefehls gegen Putin vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, dem auch Brasilien angehört.

Auch bei den Industrievertretern merkt man, dass es keine Berührungsängste gegenüber Russland gibt. Die Verbindungen Russlands und Brasiliens finden vor allem über Foren im Rahmen der Brics-Gruppe statt, erklärt Frederico Lamego, ein hochrangiger Vertreter der brasilianischen Industriellenvereinigung CNI. Diesem losen Verbund gehören neben Russland und Brasilien auch Indien, China und Südafrika an. 2024 sind noch der Iran, Äthiopien, Ägypten und die Emirate dazugekommen.

Die Brics-Länder arbeiten in thematischen Gruppen zu wirtschaftlichen Fragen zusammen, erzählt Lamego, es gibt Gruppen zur Landwirtschaft, zu Luftfahrt, Ausbildungs- und Finanzierungsfragen. Hier tauschen sich Unternehmen direkt aus, arbeiten an intensiverer Kooperation. Russland leite aktuell jene Gruppen, die sich mit wirtschaftlichen Fragen auseinandersetzen. Lamego sagt allerdings: Die Bedeutung Russlands für Brasilien solle man nicht überschätzen, viel wichtiger etwa für die Industrie seien die Beziehungen zu China. Aber so viel wird klar nach ein paar Tagen im Land: Unterschätzen sollte man den Faktor Russland auch nicht. (András Szigetvari aus Brasilia, 18.4.2024)