Angehörige der Mehrheitsgesellschaft nehmen laut van Dijk bereits mit Kinderbüchern an Diskursen teil, die ihre Dominanz ausdrücken. Oder wie es in "Hatschi Bratschis Luftballon" heißt: "Die Diener werfen sich aufs Knie, der Fritz ist nun der Herr für sie."

Foto: Matthias Cremer

Standard: In einem unserer Reiseartikel steht: "Wenn die Burmesen Rat suchen, gehen sie zum Wahrsager." Ist das Alltagsrassismus?

Van Dijk: Das hängt immer vom Kontext ab. Wenn das gebraucht wird, um europäische Superiorität zu unterstreichen, hat das eine klar rassistische Funktion. Wenn das jemand aus dem Land selbst feststellt, kann das lediglich eine anthropologische Aussage sein.

Standard: Es ist das Zitat eines Burmesen. Aber welche Faktoren bestimmen dann den Kontext?

Van Dijk: Es kommt darauf an, wann und wo das passiert und wer mit welcher Identität und mit welchem Ziel spricht. Wenn jemand rechtsextreme Ideen hat, kann man fast immer darauf schließen, dass derartige Aussagen eine rassistische Funktion haben.

Standard: Lässt das nicht den seltsamen Umkehrschluss zu, dass "liberale Medien" zu Unrecht Immunität bei der Verwendung alltagsrassistischer Ansätze genießen?

Van Dijk: Nein, so ist das nicht. Darum spreche ich auch von rassistischen Diskursen und nicht von rassistischen Leuten oder Gruppen. Es gibt ja auch progressive Menschen, die in einem Kontext rassistische oder sexistische Dinge sagen. Aber es ist schon wahr, dass man von jemandem bei einer liberalen Tageszeitung annehmen darf, dass er angestellt wurde, weil er positive Ideen hat.

Standard: Was ist das Problem dieser "Liberalen"? Dass sie eben auch Alltagsrassisten sind oder dass sie dies leugnen?

Van Dijk: Das ist Teil desselben Systems. Die Negation des Rassismus ist aber ganz typisch für eine symbolische Elite, die glaubt, dass sie nie rassistisch ist. Im Fall der Berichterstattung über Migration muss man nur einmal die Artikel zusammenzählen - auf der rechten und auf der linken Seite gibt es da kaum Unterschiede: Es dominieren immer negative Themen. Artikel über Rassismus sind dagegen sehr selten. In einem Jahrgang von El País habe ich 4000 Artikel über Migration gezählt, aber nur 30 davon hatten auch etwas mit Rassismus zu tun. Diese 30 Artikel sprachen dann vor allem über die Zustände in Italien oder Frankreich oder über die extreme Rechte im Ausland. Einen einzigen Artikel fand ich über Rassismus in Spanien - gut die Hälfte davon leugnete, dass es diesen Rassismus überhaupt gibt.

Standard: Hängt die Definition von Alltagsrassismus mit mangelndem Know-how auch "liberaler Medien" zusammen?

Van Dijk: Journalisten, deren Thema das nicht ist oder denen das Bewusstsein dafür fehlt, verbinden Rassismus noch immer nur mit der extremen Rechten. Von ihnen bekommt man dann oft zu hören: "Aber es ist doch einfach wahr, was ich da schreibe!" Nur geht es dabei nicht darum, dass sie lügen würden. Ihre Denkmodelle beruhen darauf, dass sie gewisse Dinge einfach nicht sehen. So werden Sie hier in Spanien nur selten etwas über Doktoranden aus Lateinamerika lesen, die oftmals eine bessere Ausbildung besitzen als die Spanier und dennoch ein Problem mit unseren akademischen Eliten ha-ben können. Das kommt nämlich deshalb nicht in die Zeitung, weil wir dann vielleicht auch Negatives über unsere akademischen oder gar über die bürokratischen Eliten sagen müssten.

Standard: Sie sprechen also Ausblendungen an, wenn Sie sagen: "Ein Diskurs ist immer nur die Spitze eines Eisberges"?

Van Dijk: Jeder, der schreibt, tut das mit mentalen Modellen, die teilweise dominiert sind von seinem subjektiven Wissen oder von Ideologien. Es gibt ganz einfach keinen öffentlichen Diskurs, der neutral sein kann. Dazu müsste dieser Diskurs nämlich immer vollständig wiedergegeben werden - aber jede Nachricht ist endlich.

Standard: Objektive Berichterstattung ist demnach ein Ding der Unmöglichkeit?

Van Dijk: Objektivität ist nicht nur ein falsches Wort für Intersubjektivität, sondern bereits theoretisch unmöglich: Sobald wir wählen müssen, ist es damit vorbei. Ist es unsere Wahl, andauernd Negatives über Einwanderer zu schreiben, wird das weiter Vorurteile aufbauen unter den Lesern. Das heißt aber nicht, man darf nie über kriminelle Gruppen unter Einwanderern schreiben. Nur wenn es keine Variation gibt bei den Themen über Migration, bedingt das falsche Assoziationen.

Standard: Kritische Diskursstudien sind also nicht nur analytisch, sondern sie mischen sich bewusst in diese Wahlmöglichkeiten ein?

Van Dijk: Es gibt diesen normativen Ansatz in allen Wissenschaften, die Methoden sind aber genau dieselben wie jene der nichtkritischen Wissenschaften. Der einzige wesentliche Unterschied ist, dass wir an sozialen Problemen größeres Interesse haben als an wissenschaftlichen.

Standard: Welche Werkzeuge helfen Ihnen, Probleme zu benennen?

Van Dijk: Da die Diskursanalyse selbst keine Methode ist, so ziemlich jedes. Wir gehen aber davon aus, dass Diskurse immer Ausdruck dessen sind, was die Leute denken. Was die Leute denken - das hat viel zu tun mit Psychologie. Mit der Theorie mentaler Modelle konnten wir deshalb am besten zeigen, dass selbst Texte, die nichts explizit Negatives sagen, im Verständnis der Leser so rüberkommen. Wenn in Deutschland auf einem Plakat steht: "Das Boot ist voll", wissen wir einfach, dass es nicht buchstäblich gemeint ist. Diese Metapher hat schließlich Konsequenzen, die sich implizit gegen Einwanderer richten.

Standard: Läuft ein derart psychologisierender Ansatz nicht Gefahr, soziale Ungleichheiten als Ursache für Ausgrenzung zu übersehen?

Van Dijk: Diese kognitive Analyse hat immer eine soziale Basis. Ich spreche ja nicht über persönliche Vorurteile, sondern über ein gesellschaftlich geteiltes Bewusstsein. Andererseits gibt es Kollegen, die behaupten, dass die Beziehung zwischen Gesellschaft und Diskurs eine direkte sei. Aber einfach mal rechts oder links zu sein, ist nicht genug, um zu erklären, warum Leute etwas Positives oder etwas Negatives sagen. Dazwischen liegen Interpretationen, Modelle und Kenntnisse - der soziokognitive Ansatz ist eben komplexer - auch als eine direkte, sozial oder politisch informierte Diskursanalyse.

Standard: Zu komplex, um journalistisches Handwerk zu sein?

Van Dijk: Wir haben uns das sowohl in den USA als auch in Europa angesehen: Die Diskursanalyse ist praktisch nirgendwo Teil einer journalistischen Ausbildung. Aber wer sie einmal ausprobiert hat, wird nur mehr schwer so schreiben können wie davor.

Standard: So wie Sie kaum mehr eine Zeitung lesen können, ohne die Artikel auf Spuren von Alltagsrassismus zu untersuchen?

Van Dijk: Um Gottes willen, nein! Manchmal möchte ich auch einfach nur wissen, was in der Welt so passiert.

(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 30. Juni 2010)