"Womöglich werde ich in zwei Wochen widerlegt sein." Ian Hacking sieht sich selbst als den "womöglich letzten Popperianer".

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Klaus Taschwer sprach mit ihm über Wittgenstein, Simulationen und wissenschaftliche Überraschungen.

STANDARD: Als Sie vergangene Woche in die österreichische Wissenschaftskurie aufgenommen wurden, nannte Bundespräsident Heinz Fischer einige Denker aus Österreich, auf die Sie in Ihrem Werk Bezug genommen hätten. Wer war denn der wichtigste Einfluss?

Ian Hacking: Das war sicher Ludwig Wittgenstein. Als ich Ende der 1950er-Jahre zum Studium nach Cambridge kam, kannten ihn noch alle. Aber keiner sprach über ihn, und ich hörte in meinem ganzen Leben keinen einzigen Vortrag über Wittgenstein. So konnte ich ihn für mich selbst durch die Lektüre seiner Bücher entdecken, was mein großes Glück war.

STANDARD: Gab es noch andere Österreicher, die für Sie wichtig waren?

Hacking: Karl Popper fällt mir noch ein, und womöglich bin ich ja der letzte Popperianer. Und Paul Feyerabend. Ich kannte ihn ein bisschen; meine Frau war seine Assistentin. Und ich schrieb kürzlich das Vorwort zu einer neuen Ausgabe seines Buchs Wider den Methodenzwang.

STANDARD: Hängt das damit zusammen, dass Ihr Dissertationsbetreuer in Cambridge Schüler von Wittgenstein war?

Hacking: Nein, das stimmt nicht. Sie haben das sicher auf Wikipedia gelesen, und das ist eine der typischen Wikipedia-Halbwahrheiten. Mein wichtigster Lehrer dort war zwar Casimir Lewy, das ist korrekt. Aber es war definitiv kein Wittgensteinianer, und ich hab mit ihm auch nie über Wittgenstein gesprochen - mit einer einzigen Ausnahme.

STANDARD: Um was ging es in dem Gespräch?

Hacking: Lewy erzählte mir, dass er sich mit Wittgenstein bei den gemeinsamen langen Spaziergängen immer nur über medizinische Belange unterhalten habe. Beide waren nämlich große Hypochonder.

STANDARD: Wie bedeutsam ist Sigmund Freud für Sie? Sie haben sich in Ihrem Buch "Rewriting the Soul" auch intensiv mit autobiografischen Erinnerungen und Persönlichkeitsstörungen befasst.

Hacking: Freud war wichtig. Aber er war für mich nicht wichtiger als für die ganze übrige Welt. Er veränderte die Art und Weise, wie wir über uns denken und wie wir träumen.

STANDARD: Verbindet Sie sonst noch etwas mit Wien?

Hacking: Eigentlich nicht. Und es war für mich auch etwas befremdlich und mir fast auch etwas unangenehm, dass mich die Kurie für Wissenschaft aufgenommen hat, denn die meisten auswärtigen Mitglieder der Kurie haben doch sehr enge Verbindungen zu Österreich. Claudio Magris etwa, der mit mir neu aufgenommen wurde: Er verdient das wirklich, ich nicht. Und das sage ich nicht aus falscher Bescheidenheit.

STANDARD: Apropos Vorworte: Sie haben gerade eine Einleitung zur Neuauflage von Thomas Kuhns "Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" verfasst. Eine seiner Kernthesen war, dass sich Wissenschaft in revolutionären Phasen erneuert. Was halten Sie von der Behauptung heute?

Hacking: Kuhns Auffassung ist sehr vereinfachend, und es gibt zweifellos Begebenheiten, die sich mit Kuhns Begrifflichkeit gut beschreiben lassen. Ein Beispiel dafür ist der Übergang zur Plattentektonik in der Geologie. Dagegen gab es erheblichen Widerstand, doch als sich die Idee erst einmal durchgesetzt hatte, sah man die Erde plötzlich völlig anders als zuvor. Für die Zukunft denke ich, dass es keine großen Revolutionen in der Wissenschaft mehr geben wird, sondern nur mehr Überraschungen. Aber womöglich werde ich damit schon in zwei Wochen widerlegt sein.

STANDARD: Hat das auch damit zu tun, dass wir nach einem Jahrhundert der Physik, die für Kuhn zentral war, nun im Jahrhundert der Biologie leben?

Hacking: Es ist jedenfalls richtig, dass die Lebenswissenschaften und die Medizin heute der Physik im Großen und Ganzen den Rang abgelaufen haben. Aber auch innerhalb der Physik hat sich einiges verändert: Heute ist sind es die Festkörperphysik und die Quantenphysik, die den Ton angeben. Vor ein paar Jahren besuchte ich das Labor von Rudolf Grimm in Innsbruck, der als erster ein Bose-Einstein-Kondensat aus Molekülen herstellte: Das ist heute ein Bereich der Physik, wo es richtig abgeht.

STANDARD: Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Wissenschaftern und Wissenschaftsphilosophen und -historikern?

Hacking: Es gibt viele verschiedene Arten, ein Philosoph und ein Historiker zu sein. Ich mache einfach das, was mich interessiert. Manchmal gehe ich in Labors und schaue mir an, was Physiker wie Rudi Grimm dort tun. Manchmal mache ich sehr theoretische Sachen. Im Grund bin ich ein Philosoph, der auch Geschichte betreibt und Interviews mit Forschern macht. Ich bin da sehr eklektisch.

STANDARD: Lassen sich 50 Jahre nach Kuhn überhaupt noch gar so viele neue Geschichten über Wissenschaft erzählen?

Hacking: Ja. Ich denke, dass es viele verschiedene Typen, Modelle und Analysen historischer Ereignisse in der Wissenschaft gibt, die ja an sich sehr komplex ist. Auch die Politik kann man auf ganz verschiedene Weise theoretisch analysieren, und auch das entwickelt sich weiter: In Frankreich schreibt praktisch jede Generation eine neue Geschichte der Französischen Revolution. Das bedeutet nicht, dass die früheren Versionen falsch waren - es ist nur eine neue Perspektive auf eine sehr komplexe Sache.

STANDARD: Gibt es für Sie in dem Zusammenhang einen großen Unterschied zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften?

Hacking: Ich denke, dass es eine ganze Menge von Unterschieden gibt. Aber es gibt auch eine ganze Reihe von Unterschieden zwischen der Molekularbiologie und Hochenergiephysik. Es gibt einerseits die großen "Vereiniger", die eine Geschichte von allem erzählen wollen - wie Kuhn. Und dann gibt es die "Aufspalter", zu denen ich gehöre. Als analytischer Philosoph sehe ich überall Unterschiede, und ich brauche einige Zeit, um herauszufinden, was verschiedenen Dingen gemeinsam ist. Als ein "Aufspalter" respektiere ich "Vereiniger", aber ich glaube, die Aufspalter sind näher an der Wahrheit.

STANDARD: Sie sind einer der Protagonisten des "practical turn" in der Wissenschaftsphilosophie, also der Hinwendung auf die Untersuchung der tatsächliche Praktiken der Forscher. Inwieweit stellt die zunehmende „Virtualisierung" der Forschung durch Simulationen am Computer eine Herausforderung für Sie dar?

Hacking: Virtualisierung ist ein großes, spannendes Thema. Meine besten Schüler sind fast nur damit beschäftigt. Ich bin ja ein bisschen altmodisch und stimme mit meinen Studenten nicht überein, wenn sie meinen, dass wissenschaftliche Experimente nur ein Spezialfall einer Simulation seien. Da bin ich skeptisch und zu sehr Materialist. Aber heute ist es in vielen Bereichen so, dass ein experimentelles Ergebnis als bestätigt gilt, wenn die Simulation zum selben Ergebnis kommt - und nicht umgekehrt. (Klaus Taschwer, DER STANDARD, 25.4.2012)