"bangbangbang": Ayşe Erkmens bedrohliche Abrissbirnen-Installation verweist auf städtische Transformationen in Istanbul.

Foto: S. Dilber

Eine simple Mauer aus lose aufgeschichteten roten Backsteinen ist es nur auf den ersten Blick. Denn auf den zweiten bemerkt man die leichte Wölbung im Ziegelwerk und auch den rebellischen Aufrührer, der die strikte Ordnung aus dem Lot gebracht hat: Es ist ein unter die Steine geschobenes Buch. Kniend liest man "Franz Kafka Das Schloss" und beginnt zu schmunzeln. Denn im 1922 entstandenen Roman sind es die äußeren, von Absurdität und Willkür dominierten Umstände, die die Entwicklung des Protagonisten K. behindern.

Platziert am Eingang der 13. Istanbul-Biennale liest sich die 2007 entstandene Arbeit des Mexikaners Jorge Méndez Blake allerdings als deutlicher Verweis auf die seit Juni weiterhin lodernden Flammen des Protests gegen die Regierung Erdogan. Eine minimale Intervention, die auch ein Stellvertreter für die subtilen Protestformen ist, wie etwa "der Mann, der steht" von Performancekünstler Erdem Gündüz. Am 17. Juni begann er auf dem Taksim-Platz mit seinem stillen und viele Nachahmer gefunden habenden Protest.

Im Istanbuler Alltag werden Steine allerdings noch eher zu unmittelbarerem Widerstand verwendet: In Kadıkoy rührt so manches Loch in den Pflastersteinen nicht von den aktuellen Straßenarbeiten; vielmehr ist hier im asiatischen Teil der Stadt seit dem Tod eines Demonstranten in Antakya vergangene Woche der Aufstand erneut entfacht. Während im Gezi-Park wieder Tee getrunken werden kann, die Kinder Fußball spielen, ziehen hier die Demonstranten jeden Abend, beim Monument des bronzenen Bullens startend, durch das belebte Viertel. Wenn die Polizei die Tränengaskartuschen knallen lässt, heißt es in den Lokalen harsch und bestimmt: "Alles rein!" Hinter geschlossenen Rollläden wartet man gemeinsam ab. Bis tief in die Nacht ziehen die Demonstranten weiter, skandieren lautstark "Überall ist Taksim. Überall ist Widerstand"; nähern sie sich, treten die Menschen an ihre Fenster, applaudieren oder lärmen mit Töpfen; der Geruch von Tränengas zieht auch in entfernte Wohnungen, Müllcontainer brennen.

Burcu Eke, Journalistin und Taksim-Aktivistin, erzählt von der Energie und der Kreativität, die der Protest freigesetzt hat, obwohl sie auch beklemmende, traumatisierende Situationen mit Polizisten erlebt hat. "Die Gezi-Proteste, das war bereits die Istanbul-Biennale." Das könne die Kunst nicht mehr übertreffen.

Aktivismus nicht zähmen

Fulya Erdemci, künstlerische Leiterin der Biennale, will das auch gar nicht. Zu keiner Zeit hatte sie etwa geplant, die spontanen öffentlichen Protestinterventionen und Performances zu integrieren. Man sollte diese nicht domestizieren und durch institutionelle Rahmen zähmen. Vielmehr sei sie froh, so etwas von den Aktivisten zu hören, sagt Erdemci im Interview mit dem Standard. Es beweise, wie visionär ihr Konzept gewesen sei, eine Ausstellung zur Kraft des öffentlichen Raums als politisches und künstlerisches Forum zu machen. Mit Gezi und dem damit verbundenen Aufwachen der Zivilgesellschaft hätte sie niemals gerechnet.

"Manche Leute denken angesichts der Proteste auf den Straßen, Kunst und Aktivismus sei dasselbe – für mich ist das nicht so. Sie können sich sehr nah sein, voneinander lernen und in so drängenden Zeiten wie jetzt die gleichen Ziele verfolgen, aber ihre Prozesse, die Erfahrungen, die sie ermöglichen, und der Einfluss, den sie ausüben, sind völlig unterschiedlich." Aber die Kunst könne das, was auf der Straße passiert – schon allein wegen der medialen Zensur –, betonen. Es gebe ein effektives Zusammenwirken. "Die Menschen behandeln mich, als sei ich die Kuratorin der Revolution. Das ehrt mich zwar, aber das bin ich eben nicht. Ich bin die Kuratorin einer Ausstellung."

In der Tat hat die Istanbul Biennale mit solch überzogenen, revolutionären Erwartungshaltungen zu kämpfen. Offensichtlich hätte nun die Kunst die Kraft der Realität übertrumpfen sollen. Schließlich startete doch bereits der Biennale-Prolog in Berlin mit dem prophetischen Titel Agorophobia – verstanden als Angst der regierenden Autoritäten vor der Macht der Straße – zeitgleich zu den Aufständen in Istanbul.

Manche Arbeiten besitzen aber auch die Kraft symbolischer Stellvertreter, denn nicht jeder Biennale-Besucher wird sich weit jenseits der fünf Ausstellungsorte bewegen, etwa indem er sich persönlich an die Fersen der Demon­stranten heftet, um vielleicht doch noch einen Hauch der tränengasschwangeren Gezi-Utopie zu erschnuppern. Nur wenige werden die Shopping- und Ausgehmeile rund um die İstiklâl-Straße in Beyoğglu überwinden, um sich in Tarlabaşı, jenseits des großen Boulevards, mit der zerstörenden Kraft der Gentrifizierung zu konfrontieren: mit zu Mülldeponien verkommenen Häuser-Gerippen, in denen bald schicke Boutiquehotels einziehen. Selbst die Wäscheleinen, die hier zwischen den Häusern gespannt sind, wirken wie Flaggen des Protests.

Christoph Schäfer hat die einende Kraft der Proteste in zahlreiche Zeichnungen übersetzt; sie zeigen etwa Wesen, so verschieden wie Aliens, friedlich vereint im Park. Auch das bereits im Februar, also vor Gezi fertiggestellte, mitreißende Hip-Hop-Video Wonderland von Halil Altındere ist so eine Arbeit. Sie verknüpft sich mit dem Ringen der Sulukule-Plattform um den Erhalt dieses Roma-Viertels, dem ersten Opfer der urbanen Transformationen. Eine Roma-Gang, gespielt von ehemals dort ansässigen Jugendlichen, führt den Kampf um das Viertel und richtet den Verantwortlichen aus: "Statt die Vergangenheit zu restaurieren, repariert lieber den Geisteszustand des Staates!"

Und auch die historischen Arbeiten (u. a. von Gordon Matta-Clark oder Mierle Laderman Ukeles) sind keine elitären Fingerzeige, sondern Beispiele zivilen Ungehorsams. Es wäre das Beste, die Biennale als Resonanzraum der Gezi-Proteste zu verstehen, als ein bestärkendes Einstimmen in Applaus oder das Scheppern mit Töpfen. (Anne Katrin Feßler aus Istanbul/DER STANDARD, 16.9.2013)