"Es geht darum, sich darauf zu besinnen, was wir Gebrauchsgegenständen verdanken. Wie viel Genialität in ihnen steckt. Wie spannend sie für Kinder sind", sagt die Pädagogin Donata Elschenbroich.

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"Mich hat immer der Eierschneider fasziniert. Dass man wie bei den Saiten einer ­Gitarre darauf zupfen kann und dass er Eier so exakt zerteilt", erinnert sich Elschenbroich.

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STANDARD: Stört Sie Weihnachten?

Elschenbroich: Nein, überhaupt nicht. Man muss nur aufpassen, dass man in diesem Durcheinander nicht den Blick für die wesentlichen Dinge verliert.

STANDARD: Es ist das Fest der Spielzeugvermehrung. Und Sie halten kommende Woche in Wien einen Vortrag mit dem Titel "Das Spielzeug ist auf Urlaub".

Elschenbroich: Dass dieser Vortrag im Dezember stattfindet, ist Zufall. Aber Weihnachten ist sicher eine Zeit, in der man darüber nachdenken kann, welche Dinge Kindern das Wissen der Welt erschließen und welche ihren Blick verstellen.

STANDARD: Meinen Sie pädagogisch wertvolles Spielzeug, das sich vom Plastikkram abhebt?

Elschenbroich: Dieses Spielzeug kann sehr trocken sein und zu stark die Strategien vorgeben. Dann ist es in einem viel zu engen Sinn didaktisch. Das ist insgesamt die Gefahr von Spielzeug: dass es den Kindern eindeutige Strategien vorgibt und sie sich daran gewöhnen. Die Kinder sind dann nur mehr Handlanger. Mit ungestalteten Materialien können sie hingegen selbst ihre Ideen produzieren. Wenn man es ihnen nicht ­abgewöhnt hat, sind sie zu verblüffenden Dingen fähig. 

STANDARD: Man nimmt ihnen also  die Chance zum Entdecken?

Elschenbroich: Auf jeden Fall. Heute ist die Dingwelt übermächtig. Da muss man sehr  bewusst ver­suchen, Räume einzuziehen, in denen Kinder die Freiheit haben, aus ungestaltetem Material ihre Ideen zu entwickeln.

STANDARD: Sie stellen Ihr Projekt "Weltwissen-Vitrine" dem gängigen Spielzeug gegenüber. Da können Menschen Gegenstände wie in einer Bibliothek ausleihen, um sie zu Hause mit den Kindern zu erkunden.

Elschenbroich: Es geht darum, sich darauf zu besinnen, was wir Gebrauchsgegenständen verdanken. Wie viel Genialität in ihnen steckt. Wie spannend sie für Kinder sind. Sie haben ja noch einen frischeren Blick darauf. Wir Erwachsenen sind pragmatisch geworden, und nüchterner. 

STANDARD: Was halten Sie vom spielzeugfreien Kindergarten?

Elschenbroich: Dessen Ergebnisse sind sehr ­ermutigend. Es ist der Versuch, gemeinsam mit den Kindern - man nimmt ihnen das Spielzeug ja nicht strafweise weg - auszuprobieren, welche Ideen und Projekte entstehen, wenn das Spielzeug eine Zeitlang sozusagen auf Urlaub geschickt wird. So machen Kinder die für ihr Leben wichtige Erfahrung, dass weniger mehr sein kann.

STANDARD: Kommunizieren Kinder mehr miteinander, wenn das Spielzeug weniger komplex ist?

Elschenbroich: Es kommen andere Themen auf, und es entstehen längere Gespräche. Es ändern sich Buben- und Mädchenrollen, wenn das Spielzeug weniger Inhalte vorgibt, beziehungsweise können die Rollen nicht mehr so eindeutig zugeschrieben werden. Die Spiele werden komplexer und aus­dauernder. Natürlich braucht das eine gewisse Umstellungszeit.

STANDARD: Eltern wollen ihre Kinder fördern. Was halten Sie von der grassierenden Kursitis?

Elschenbroich: Da sind ja durchaus interessante Angebote dabei, bei denen Eltern auch Neues gezeigt wird. Das Bildungsbewusstsein ist deutlich gewachsen ­- in allen Schichten. Es hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass der Lebenserfolg der Kinder sehr stark vom Bildungserfolg abhängt. Das wird dann aber oft mit ­Förderprogrammen, Kursen und anderen Maß­nahmen, die das Kind ­optimieren sollen, kurzgeschlossen. Da treten Eltern in große Konkurrenz zueinander. Denn man kann sich dem nicht ohne weiteres verweigern und fragt sich, ob das eigene Kind benachteiligt ist, wenn es da nicht mitzieht.

STANDARD: Was halten Sie von dieser Entwicklung?

Elschenbroich: Solcher Bildungspanik möchte ich entgegensetzen: Das wesentliche Lernen passiert im Alltag, sehr viel davon innerhalb der Familie. Man muss das nicht in Kurse verlagern. Es braucht nur ein paar Anregungen, wie man ­gelegentlich einen kleinen pädagogischen Raum zu Hause einziehen kann.

STANDARD: Wie könnte das aussehen?

Elschenbroich: Eltern können beispielsweise sagen: Jetzt schaufeln wir uns 20 Minuten Zeit frei, nehmen uns diese Stimmgabel vor und schauen gemeinsam, wie sie schwingt. So ein Teil ist viel billiger als irgendein Spielzeug. Es wird etwas Überraschendes entstehen: Die Fragen, die auftauchen, führen einen ganz woanders hin. Das ist auch für ­Erwachsene interessant. Tasten, Horchen – da erschließt sich uns die Genialität, die in diesen einfachen Dingen steckt.

STANDARD: Gemäß dem Spruch, dass ein kreativer ­Erwachsener ein Kind ist, das überlebt hat.

Elschenbroich: Das ist nett! Wissen Sie, was mich sehr überrascht hat? Wie sehr die Eltern diese Art des Spielens mögen, vor allem die Väter. Wenn die Kinder spielerisch mit Gerätschaften und Werkzeugen hantieren, werden auch die Väter aktiv. Und zwar quer durch alle Gesellschaftsschichten. Sonst entstehen diese Parallelwelten: die Eltern mit ihrem Fernseher und die Kinder mit ihrer Playstation.

STANDARD: Was es dafür braucht, ist gemeinsame, unverplante Zeit.

Elschenbroich: Na ja, zu einem Kurs müssen die Kinder kutschiert werden. Das kostet auch Zeit. 20 Minuten sollten Eltern doch Zeit haben.

STANDARD: Gibt es einen Alltagsgegenstand, der sich besonders als Spielzeug eignet?

Elschenbroich: Mich hat immer der Eierschneider fasziniert. Dass man wie bei den Saiten einer ­Gitarre darauf zupfen kann und dass er Eier so exakt zerteilt. Das ging mir als Kind durch und durch. Oder diese sympathische Wäscheklammer, die sich seit Jahrzehnten gegen den Wäschetrockner behauptet. Fühlt sich angenehm an, vor allem aus Holz. Aber man kann sich auch ­fragen: Warum schnellen diese Arme immer ­wieder in ihre Ausgangslage zurück, wenn der Druck nachlässt, was passiert da drinnen?

STANDARD: Ein ständiges Streitthema in Österreich sind die langen Schul­ferien im Sommer. Sind die sinnvoll?

Elschenbroich: Wir haben vor einem Jahr einen Film gedreht, der hieß "Die andere Bildung in den Ferien". Wir haben herausgefunden, dass sich in dieser ­wochenlangen freien Zeit die Bildungsschere noch einmal stark öffnet: Denn da gibt es die Eltern, die ihre Kinder in Kurse schicken können, mit ihnen etwas unternehmen. Und es gibt andere, die diese Zeit einfach irgendwie über­brücken müssen. Da wird oft einfach nur länger ferngesehen.

STANDARD: Was kann man da tun?

Elschenbroich: Die Ferien sind ein Tabu. Es gehört der Schule deutlich gesagt, dass sie mitverantwortlich ist, was in den Ferien geschieht. Das hören die Lehrer aber nicht gern, und sie ziehen oft nicht mit, aber es wäre gar nicht so schwer. Sie könnten sich vor den Ferien ein paar Aufgaben mit den Kindern überlegen. Damit meine ich  nicht den obligatorischen Schulaufsatz über das schönste Ferienerlebnis von seinerzeit. Das reicht sicher nicht. Hier muss sich die Schule mehr einfallen lassen. Was wollen sich die Kinder in den Ferien vornehmen und in Eigenregie üben, fern der Schule? Den Kopfsprung vom Dreimeterbrett vielleicht. Zwanzig Wörter aus dem Heimatland der Großeltern mitbringen. Nur abhängen finden Kinder ein paar Tage lang schön. Das wird schnell langweilig.

STANDARD: Sie meinen, man müsste die Trennung von Schule und Freizeit aufbrechen?

Elschenbroich: Ja. Die Pädagogen wünschen sich, dass in Schulen für das Leben gelernt wird. Aber man lernt doch ständig im Leben. Das Lernen muss als Teil des ganzen Lebens erfahren werden, muss sich daheim fortsetzen, und das Kind muss seine Eltern erleben als Menschen, die fragen und sich interessieren.

STANDARD: Gibt es - außer dem Eierschneider - Spielzeug, das Sie in Ihrer Kindheit geprägt hat?

Elschenbroich: Ich bin nach dem Weltkrieg bei ­meinen Großeltern aufgewachsen. Ich war ein altkluges Kind, habe früh ­lesen gelernt, viel Klavier gespielt. Im Spiel sich selbst oder mit anderen Kindern eine eigene Welt zu bauen, dieses versunkene Spielen, das war in meiner Kindheit eher selten. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum ich mir gerne dar­über Gedanken mache. (Lisa Mayr, Peter Mayr, DER STANDARD, 06.12.2013)