Wie auch immer ein Anzug geschneidert ist, sein Grundentwurf bleibt der gleiche.

Illustration: Nanna Prieler

Männerkleidung drückt vor allem die Zahlungsfähigkeit ihrer Träger aus, schrieb der norwegisch-amerikanische Kapitalismus-Kritiker Thorstein Veblen 1899. Das ist im Prinzip bis heute so geblieben – mit einer wichtigen Zuspitzung: Unabhängig vom gesellschaftlichen Standing bestimmt Macht den Dresscode der Männer. Zwar werfen Regierungschefs (siehe Christian Kern) oder Minister (siehe Sebastian Kurz) immer öfter die Krawatte ab und passen sich der von der aktuellen Mode diktierten Sakkolänge an. Aber der Grundentwurf bleibt: bei Politikern, bei Managern und sogar bei Wissenschaftern, wenn sie gleichzeitig wirtschaftliche Rollen übernehmen.

Verblüffend, dass Friedrich Nietzsche, etwas älter als Veblen und Verfechter der Bildung geistiger Eliten, sich in einigen seiner Schriften als begeisterter Anzug-Anhänger entpuppt. Der Anzug sei "modern, gerade weil er nicht modisch" sei. Er drücke "die Norm aus, die reife europäische Männer bereits erreicht haben" sollten. Der "geistig gereifte Mann" brauche mithilfe des Anzugs keine Gedanken mehr verschwenden für Eitelkeit (des Höflings) oder für Gefallsucht (gegenüber den Frauen). Der Anzug bringe das Modische zum Verschwinden.

Wellen glätten

Anfang der 70er-Jahre, nach dem Abebben der Studentenrebellion und dem teils erfolgreichen "Marsch durch die Institutionen", glättete erneut der Anzug die gesellschaftspolitischen Wellen. Das prominenteste Beispiel war der Grüne Joschka Fischer. Als Frankfurter Straßenkämpfer begann er in den 60er-Jahren seine Rebellion, seine Ministerschaft in der hessischen Regierung bestritt er noch mit Turnschuhen, Jeans und verwetzten Hemden.

In der rot-grünen Bundesregierung verwandelte er sich. Die Zeit der außerparlamentarischen Opposition war vergessen, der Anzug von der Stange umhüllte plötzlich auch Fischer, als wollte er sich zumindest äußerlich von seiner Vergangenheit distanzieren. Die Publikumserwartungen an den gezähmten Außenminister erleichterten den Wandel.

Christian Kern (l.) und Sebastian Kurz lassen öfter die Krawatte weg. Hier im Zwiegespräch in New York anlässlich der UNO-Generalversammlung im September 2016.
Foto: apa/bka/andy wenzel

Widerstand

Die amerikanische Kunsthistorikerin Anne Hollander (1930-2014) hat in ihrem 1994 erschienenen Buch "Anzug und Eros" ihre Position verteidigt, dass Veränderungen in der Kleidung von Mann und Frau nicht nur kulturelle, sondern auch politische Veränderungen spiegeln – zum Beispiel die Veränderung, dass alles gleich bleibt: "Die Widerstandskraft der Herrenbekleidung zeigt, dass eine bestimmte visuelle Form eine ganz eigene Autorität entwickelt hat." Indem sie so aussähen, wie sie seit über 200 Jahren aussehen, und sich funktional erfolgreich zeigen.

Ob die Hosen eng oder weit geschnitten werden, der Latz schnell oder langsam geöffnet werden kann oder die Größe der Sakkotaschen variiert, all das ist ebenso unerheblich wie das Stoffdesign. Anzug bleibt Anzug. Vor allem weil die Männermode nicht den Entblößungen der Frauenmode gefolgt ist. Ob ein Mann eine Unterhose trägt oder nicht, bleibt ebenso verborgen wie die Marke.

Freizügiger werden Männer woanders. Sie tragen zum Anzug T-Shirts mit immer größeren Ausschnitten und fantastischeren Farbmustern. Zu den Hightech-Sneakern trägt man(n) keine Socken mehr.

Doch wie rebelliert man heutzutage? Selbst in der Jeansmode gibt es Brands, deren Modelle frei sind von Spuren manueller Arbeit. Und die Löcher stammen längst nicht mehr von einem Skating-Unfall oder einer Rauferei.

Schnittig

Die in schnelllebigen Internetzeiten auch schon wieder abgestandene Variante des Widerstands sind schlecht sitzende Jeans gegen die gut sitzenden Hosen des Nadelstreifs. Ärger? Verflogen. Eine Lösung wären extrem herunterhängende Hosen und extrem kurze Sakkos aus schillernden Stoffen, mit denen junge Grüne oder Neos ins Parlament einziehen könnten. Wir warten auf 2018. Vielleicht erlebt ja auch "Sack und Asche" als Anzug eine Renaissance.

Den Gegensatz, einen sehr eng geschnittenen Anzug, wie er von Kern und Kurz getragen wird, macht Nora Weinelt in ihrem Buch "Minimale Männlichkeit" – erschienen bei Neofelis im Mai 2016 – zum Thema. Clou dieser neuen, zuerst von Hedi Slimane für Dior entworfenen Mode ist die Zurschaustellung des männlichen Körpers nach dem Vorbild der militärischen Ausgehuniform. Die Modelle sind messerscharf geschnitten, sitzen wie angegossen. Das kam für den bürgerlichen Herrenanzug nie infrage. Jetzt werden Schnitttechniken aus der Frauenmode übernommen. Slim Fit ist dem Ganzkörpertrikot sehr nahe.

Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel lehnte es ab, dass Männer über Mode befinden. Sehr wohl aber könnten sie sich über Statuen unterhalten. Denn "deren Nacktheit dient nicht der Erregung, sondern der Darstellung eines höheren Inneren, der Vergeistigung". (Gerfried Sperl, RONDO, 29.4.2017)

Eng geschnittene Anzüge tragen sowohl Sebastian Kurz (im Bild im Jänner mit dem ukrainischen Außenminister Pavlo Klimkin) ...
Foto: apa/afp/savilov

Bild nicht mehr verfügbar.

... als auch Kanzler Kern – hier mit Prinz Charles bei dessen Besuch Anfang April.
Foto: ap/zak

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