Szenenfoto der Inszenierung "Don Giovanni"

Foto: Ruth Walz

Szenenfoto der Inszenierung "Pierrot Lunaire"

Foto: Leonard Zubler

Szenenfoto der Inszenierung "Die Herakliden"

Foto: Ruth Walz
Mit Klaus Michael Grübers "Don Giovanni"-Inszenierung ging die letzte Premiere der von Gerard Mortier geleiteten Ruhrtriennale zu Ende. Eine Bilanz.

Recklinghausen - Die letzte Großpremiere ist abgefeiert. Doch eine Bilanz will Gérard Mortier, Leiter der Ruhrtriennale, nicht ziehen: "Bei einer Beurteilung der ersten Spielzeit ist zu berücksichtigen, dass ich hier Aufbauarbeit leiste. Die Auswirkungen dessen kann man erst nach Jahren abschätzen."

Die Kürze der Vorlaufzeit schlug sich in einer Reihe hochkarätiger Gastspiele nieder, etwa von Marthaler-Produktionen aus Zürich. Die Zahl der Eigenproduktionen wird schon im nächsten Sommer erhöht. "Was wir in den letzten Wochen gesehen haben", so Mortier, "waren Anfänge: der Anfang des Dialoges mit Industrieräumen, der Anfang des Experimentierens mit Musikformen, der Anfang der Verführung eines breiten Publikums."

Geschickt formuliert er um das Problem herum, dass die Triennale beim Publikum noch nicht angekommen ist, denn der häufig schwache Besuch war nicht zu übersehen. Bei einigen Produktionen aber, wirft Mortier ein, sei das zu beobachten gewesen, was er sich als Prozess wünsche: Auch wenn die Premieren von Peter Sellars oder von Marthalers Pierrot Lunaire nicht ausverkauft gewesen seien, so habe sich die Qualität der Aufführungen schnell herumgesprochen. Das Publikum sei dann geströmt.

Auch die letzte Premiere war längst nicht ausverkauft. Dabei hätte es Klaus Michael Grübers unspektakulär schöne Inszenierung von Mozarts Don Giovanni im Ruhrfestspielhaus von Recklinghausen durchaus verdient gehabt. Sein Don Giovanni (Stéphane Dégout) ist ein zynischer Intellektueller, dessen dunkles, abgründiges Wesen Grüber mit grellbunten Genrebildern des Volkes kontrastiert.

Das Morbide, Moribunde bleibt allgegenwärtig: Die Bauernhochzeit Zerlinas und Masettos wird um eine überdimensionierte Urne herumgefeiert. Mit seiner Mischung aus Standesdünkel und Galanterie gewinnt Don Giovanni hier Zerlina, missbraucht dabei die Umgangsformen der Gesellschaft für seine eigenen Lustbarkeiten.

Entsprechend schafft er es bei dem Fest im eigenen Hause, seine ganze Gästeschar gegen sich aufzubringen. Der kurzfristige Identitätswechsel, der Kleidertausch mit seinem Diener Leporello, ist die logische Konsequenz, hält seinen Drang zum Grab aber nicht auf: Große Kerzen, ewige Lichter bilden nun die Kulisse, die sich dann in der Friedhofsszene auf zehn Totenköpfen wiederfinden, Ausdruck einer oberflächlichen Morbidität, Ausdruck für Don Giovannis Defätismus, sich so lange amüsieren zu wollen, bis die Party vorbei ist. Ähnlich unspektakulär, aber gehaltvoll ist das Dirigat von Hans Zender am Pult des Mahler Chamber Orchestra an der Spitze einer weitgehend jungen Sängerbesetzung.

Höhepunkt der Triennale war aber die radikale Neuinterpretation der Euripides-Tragödie Die Herakliden durch Peter Sellars im Lichthof eines Ende der Zwanzigerjahre errichteten, expressionistischen Gebäudekomplexes in Bottrop. Das Stück hat das Schicksal der Kinder des Herakles zum Gegenstand, die nach dem Tod ihres Vaters von König Eurystheus ins Exil getrieben wurden. Jedem Land, das die Flüchtlinge aufnehmen will, droht dieser mit Krieg. Doch die Athener bieten ihm die Stirn.

Sellars findet für seine Aktualisierung eine verblüffende Gleichung: Er setzt das Schicksal der Kinder mit dem des kurdischen Volkes gleich. Die (textlosen) Herakliden werden von Kindern kurdischer Asylbewerber gespielt. Die Rolle der Athener entspricht dabei der von asylgewährenden Gesellschaften. Die Rolle des Tyrannen Eurystheus schreibt Sellars den nahöstlichen Machthabern, etwa Syriens oder des Irak, aber auch der Türkei, zu.

Die große Statik der Aufführung, die Verstärkung der Sprache über Mikrofone betonen den tribunalhaften Charakter. Einerseits ist Sellars' Textfassung terminologisch auf dem aktuellsten Stand, andererseits folgt er exakt Euripides' Handlungsgang und - sein Spagat glückt. Mit ungebrochenem, hohem Pathos lässt er seine Darsteller sprechen. Darin entfaltet der antike Stoff genau die poetische Fallhöhe, die bewirkt, dass die Aufführung zwischen den Elementen von sozialengagiertem Dokumentarspiel und ironisch simplifizierender Politparabel nicht in Betroffenheitstheater abdriftet. (DER STANDARD, Printausgabe vom 30.9.2002)