Übertönt von den abgedroschenen Evergreens wahlkämpfender Politiker und ihres opportunistischen Anhangs findet im kulturpolitischen Bereich noch ein weiteres Turnier statt: das Rittern um den Direktorensessel der Wiener Volksoper.Genau genommen gibt es sogar zwei Sessel zu erobern: Jenen, der schon seit längerem ab 2005 zur Disposition steht, und einen für den supplierenden Statthalter in den kommenden zwei Jahren, um die Dominique Mentha seine Wiener Tätigkeit abkürzt. Natürlich könnte auch der Supplent den definitiven Direktor abgeben, fände sich eine(r), der einerseits über die hinreichende Reputation verfügt, auf den andererseits so wenige neugierig sind, dass sie/er am Währinger Gürtel praktisch sofort den Thron besteigen kann. Irgendeine(n) wird man Anfang November zweifellos aus dem Hut ziehen. Und hat man eine(n) erwischt, die/der durch die eine oder andere inszenatorische Räumungsaktion eines Zuschauerraumes im deutschen Großfeuilleton schon ein paar Mal von sich gut schreiben machte, darf man sich wieder entspannt zurücklehnen. Denn für die nähere Zukunft, in der Peter Sellars im Theater an der Wien am Regiepult sitzt und Peter Konwitschny in der Staatsoper, ist, wie man annehmen darf, auch das szenische Verunstaltungspotenzial der Volksoper gesichert. Möglicherweise lässt sich eine solch kühne Entscheidung auch noch als Beispiel zukunftsorientierter Kulturpolitik in den Wahlkampf einbringen. Zumal nicht anzunehmen ist, dass die deplorable Perspektive, die eine solche Entscheidung eröffnet, im allgemeinen Glückstaumel, den sie auslösen wird, überhaupt allgemein sichtbar wird: In einer Zeit, in der man in einer Stadt mit dreieinhalb Millionen Einwohnern wie Berlin eines der drei Opernhäuser zu schließen gedenkt, wird es in Wien drei hoch subventionierte Musiktheater geben (mit der Kammeroper sind es vier), die bestenfalls nebeneinander - wenn es leicht geht, aus Konkurrenzgründen auch gegeneinander - vor sich hin werkeln. Und niemand kommt auf die sicher als obszön befundene Idee, die Vakanz in der Volksoperndirektion als Chance zu nutzen, zunächst einmal die Funktion dieses Hauses zu definieren: Da solche Überlegungen nicht radikal genug sein können, wäre zunächst zu klären, ob man die Volksoper, die im jetzigen Zustand ihrem Titel schon längst nicht mehr entspricht, überhaupt braucht. Vielleicht wäre sie als Spielstätte für die chronisch unterversorgten freien Operngruppen viel besser genutzt? Entscheidet man sich für ihren weiteren Betrieb, wäre für sie ein dramaturgisches Profil zu entwickeln und erst nach dessen Festlegung die für dessen Realisierung am besten geeignete Leitung zu berufen. So gibt es in Wien, der Geburtsstadt der Operette, keine einzige Produktion dieses Genres, in die man einen auswärtigen Gast, ohne schamrot zu werden, hineinführen kann. Des Weiteren gibt es keine Bühne, auf der neue Formen der musiktheatralischen Präsentation kreiert und erprobt werden. Warum muss man wegen einer schönen Arie eine ganze sonst fade Oper spielen? Warum animiert niemand Autoren und Musiker, beliebte Ausschnitte aus unbekannten Opern zu einem neuen, attraktiven Ganzen zu collagieren? Der Erfolg von Liz Kings Schwanensee remixed ist der schlagende Beweis für das wache Interesse - vor allem des jungen Publikums - an solchen Bemühungen. Warum lässt man auch an der Volksoper die Texte nach Art dramaturgischer Vorzugsschüler in der Originalsprache radebrechen und hat keinen Mut mehr zu deutschen Versionen? (An der Burg spielt man Shakespeare ja auch nicht auf Englisch.) Warum weicht man bei der Erstellung des Repertoires nicht vom Trampelpfad gängiger Programmierung ab und wagt sich an den einen oder anderen einstigen Knüller von d'Albert, Lortzing, Weber, Wolf-Ferrari oder auch (oh pfui!) Wilhelm Kienzl? Warum nicht Ligetis Aventures zusammen mit dem Watzmann von Prokopetz und Tauchen? Des Weiteren wäre in solche Überlegungen auch noch folgender Aspekt einzubeziehen: Inmitten der eben entstehenden und vorwiegend ökonomisch ideologisierten Festung Europa wird es keine Stätte geben, an der man sich über ästhetische Entwicklungen und Sachverhalte auf dem Sektor des Musiktheaters informieren kann, die über die übliche EU-interne Gastspielinzucht hinausgehen. Neben den längst anstehenden gültigen Produktionen zentraler Werke von Philip Glass, John Adams oder La Monte Young sollte die Präsentation musiktheatralischer Formen des Nahen, Mittleren und Fernen Ostens auch in Zukunft nicht ausschließlich die Domäne des Festspielhauses St. Pölten bleiben. Zumal auch der so genannte "schwarze Kontinent", wie die diesjährige Kasseler documenta bewies, längst schon künstlerische Relevanz erlangt hat, die über den Exotismus weit hinausgeht. Auch wenn sich von einer Wiener Operndramaturgie gegenwärtig nicht einmal träumen lässt, so scheint eine behutsame Funktionsklärung für die Wiener Volksoper vor der Berufung einer neuen Leitung dennoch unerlässlich. (DER STANDARD, Printausgabe vom 21.10.2002)