Intendant Nikolaus Bachler belebt die Münchner Opernsinne: nach Martin Kušejs Macbeth nun mit Alban Bergs Wozzeck, inszeniert vom Schauspielregisseur Andreas Kriegenburg. Auf den ersten Blick ein Risiko, doch bei den suggestiven Bildern und den Figurenporträts merkt man: Attitüden, mit denen sich manche Quereinsteiger am komplexeren Genre überhoben haben, sind dem Oberspielleiter des Hamburger Thalia Theaters fremd. Da wird weder gegen den Strich gebürstet noch partout auf Gegenwart getrimmt.

Am Ende steht Wozzecks Sohn an der Kante eines tristen Bühnenkasten-Zimmers, das keinen festen Grund hat. Seine Mutter Marie ist längst tot; ebenso der Vater, an den er sich immer wieder geklammert hatte. Im Moment einer trügerischen Idylle von Dreisamkeit, als Wozzeck wieder einmal Geld vorbeibrachte, hatte er das Wort Papa und zur Klarstellung gegenüber der Welt noch einen Pfeil in Richtung des Vaters an die Wand gemalt. Dem war diese Personifizierung eines sozusagen unwissend unschuldigen Alter Ego unheimlich.

Michael Volle schafft es, Wozzecks Ambivalenz mit jeder Körperhaltung, jeder Miene und jedem Ton zu verdeutlichen. Da will einer seine Frau und sein Kind lieben und kann es nicht. Er wird aus Jux für dumm verkauft wie vom schwabbeligen Hauptmann (Wolfgang Schmidt). Er wird als Versuchskaninchen benutzt wie von dem perversen Doktor (Clive Bayley). Da wird auf ihm herumgetrampelt wie vom Tambourmajor (Jürgen Müller) und allen anderen, außer seinem Freund Andres (Kevin Conners), der aber selber verängstigt durch die Zeit hetzt.

Wenn Wozzeck jenen ebenso rabenschwarzen wie genial hellsichtigsten Satz herausstößt vom Abgrund Mensch, der einen schwindeln macht, wenn man hinabsieht: Dann ist sein Erschrecken so elementar, weil er nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst meint und das, was noch mit Marie und ihm unweigerlich passieren wird.

Dieser "Wozzeck" ist zwar auf einen grandiosen Hauptdarsteller fokussiert, lebt aber auch von einer großartigen Ensembleleistung und der szenischen Überzeugungskraft. Michael Volle singt jede Note mit einer nahezu belcantistischen, vollen stimmlichen Opulenz und erweist sich erneut als ein begnadeter Darsteller, der weiß, was er singt. Michaela Schuster hält als Marie auf dieser Höhe mit; beide verschaffen der Radikalität der Büchner'schen Worte hinter Bergs Musik eine zusätzliche dunkle Leuchtkraft.

Auch Kent Nagano setzt im Graben auf die dunkle Leuchtkraft einer musikalischen Poesie, die in den Abgrund der menschlichen Natur zu blicken vermag. Er liefert mit dem Bayerischen Staatsorchester den großen Ton zur großen und großartigen Szene.

Das Publikum musste da erstmal durchatmen vor dem Unisono-Jubel. (Joachim Lange aus München / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 13.11.2008)