Theaterarbeit als Suche nach einer gerechteren Gemeinschaft: Regisseur René Pollesch operiert mit Paradoxien; er plädiert nicht für eine Gesellschaft der Einzelnen, sondern für eine, die alle in ihrer Unterschiedlichkeit fasst.

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Standard: Das Burgtheater kündigt eine Liebesgeschichte an. Aber Sie misstrauen doch Geschichten?

Pollesch: Das Theater lebt davon, dass es eine universelle Geschichte für uns alle gibt. Es operiert mit Begriffen, die Kommunikation absichern. Bei "Liebe" fühlt sich jeder gemeint. Aber nicht jeder kann lieben und geliebt werden. Genau wie beim Geld: Die einen haben es, die anderen nicht. Nur von der Liebe wird das nie so erzählt. Damit könnten wir nicht leben, dass nur einige geliebt werden können.

Standard: Was tun?

Pollesch: Die amerikanische Biologin Donna Harraway plädiert für ein "gemeinsam zu bewohnendes Haus der Differenzen" : Wir müssen die Moral von den Käfern lernen. Im Tierreich gibt es genug soziale Projekte, wir Menschen haben vielleicht keines mehr, außer vielleicht Profit oder Biologie. Wir arbeiten nicht mehr an einer sozialen Gesellschaft, sondern an einer, die markttechnisch funktioniert; nicht mehr an einer Kultur, sondern eher an unseren Körpern.

Standard: Welche Rolle spielt die Biologie in dieser uns untergejubelten Universalgeschichte?

Pollesch: Das erläutert der Schweizer Historiker Philipp Sarasin in seinem Buch "Darwin und Foucault" sehr gut: Nach Darwin sind wir das Ergebnis immenser Anpassungsfähigkeit. Nicht der DNA-Bauplan einigt uns, sondern die Anpassung. Und ehrlich, so ähnlich sind wir uns ja wirklich nicht. Wir müssen uns nur dauernd zu Ähnlichen machen. Wie wäre es denn zur Abwechslung einmal damit, sich zu gänzlich Anderen zu machen, um so zu einer anderen Form von Gemeinschaft zu finden!

Verschiedene Perspektiven einzunehmen, das ist eine Alternative zur Universalität. Ich plädiere nicht für eine Gesellschaft der Einzelnen, sondern für eine, die alle in ihrer Unterschiedlichkeit fasst. Ich suche eine Gemeinschaft, aber eine gerechtere.

Standard: Pollesch-Abende sind nicht berühmt für die Mitteilsamkeit von Innenleben. Auch beim Thema Liebe nicht?

Pollesch: Nein. Aber wir befassen uns mit diesem großen Gefühl, das wir nicht alle gleich kennen. Ich zum Beispiel bin noch nie vehement zurückgeliebt worden. Das sage ich nur, um mit meinem Leben zu belegen, dass die Erfahrung nicht für alle gleich ist. Ich werde aber immer damit belästigt, dass Liebe alle erlangen können. Und ich soll mich fragen, was habe ich falsch gemacht? Dann muss ich mich noch mehr anstrengen. Eigentlich wie bei der Arbeit. Aber die Liebe sollte doch ein Ort sein, der weg ist vom Markt!

Standard: Geld und Liebe sind gänzlich unterschiedlich besetzt. Geld negativ ...

Pollesch: ... und die Liebe immer positiv. Marguerite Duras hat sie aber auch als Krankheit beschrieben.

Standard: Sie stellen am Theater Theorien vor. Bei "Fantasma" die des Philosophen Giorgio Agamben.

Pollesch: Ja, sein Buch Kindheit und Geschichte. Am Theater Begriffe theoretisch zu verhandeln hat für uns folgenden Grund: Normalerweise werden diese Texte im Probenprozess gelesen und landen dann im Programmheft. Wir fragen uns: Wie kann man diese wichtigen Philosophen wieder ins Theater einschleusen? So, wie man das mit den Idealisten gemacht hat!? Leider ist man bei denen stehengeblieben.

Standard: Was sollen die Theorien am Theater auslösen?

Pollesch: Wir machen kein Proseminar, in dem Agamben mit verteilten Rollen gesprochen wird. Zwei Seiten Agamben zum Begriff "Erfahrung": Das ist ja langweilig. Wir meinen die Anwendung: Sagt uns das etwas für unser Leben?

Standard: Was meint der Begriff "Fantasma" ?

Pollesch: Das Theater geht davon aus, dass der Mensch im Kern immer gleich bleibt. Die Philosophen sagen das Gegenteil. Etwa der Realitätsbegriff: Wenn wir hier sitzen und reden, empfinden wir das als real. Wenn wir zu Hause von vorbeifliegenden Schweinchen träumen, hat das weniger reales Gewicht. Agamben sagt: Das war einmal anders. Das Fantasma, also der Traum, war in der Antike beispielsweise einmal der Ort, an dem wichtige Erfahrungen gemacht wurden. Das wurde dann von René Descartes' Diktat der Vernunft hinweggewischt.

Standard: Ist Ihr Theaterstück ein Plädoyer für die Vorstellungskraft?

Pollesch: Wir beschäftigen uns mit der Liebe in der Vorstellung. Natürlich ist uns die mittelalterliche Minnekunst, die sich mit dem imaginierten Ideal der Liebe zufriedengab, fremd. Liebe musste nicht körperlich verifiziert werden. Heute sagen wir: Na ja, wenn ihr nicht miteinander geschlafen habt ...

Standard: ... ist das weniger wert?

Pollesch: Genau, das ist der Punkt. Oder die Computerspiele wie World of Warcraft. Bürgerliche Mitteleuropäer sagen: Das ist doch kein Leben, Kind, du musst raus und was erleben! Das Kind aber wird sagen: Nein, das ist Erleben! Das virtuelle Spiel wird als Wirklichkeitsminderung diffamiert. Alle denken, sie müssen im Matsch stehen oder unterm Balkon der Geliebten sitzen.

Standard: Die nicht reale Welt kommt derzeit mit dem globalen Finanzkollaps wieder ins Spiel.

Pollesch: Wobei die Broker mit purer Mathematik operieren, in Algorithmen. Bei unserem Stück kommt die Finanzkrise über den Medientheoretiker Boris Groys rein, der in "Das kommunistische Postskriptum" den Übergang des Kommunismus zum Kapitalismus in China behandelt. Er sagt, der Wechsel vom Kommunismus zum Kapitalismus war eine Entscheidung infolge dialektischen Denkens.

Standard: Wie lässt sich das auf die Liebe anwenden?

Pollesch: Wir testen, ob die Theorie von Groys eine Problemlösung für eine Liebesbeziehung bereithält. Also: Jemand wendet sich von einem ab. Die Liebe ist weg. So wie unsere Vorstellung von unendlicher Liebe enttäuscht wird, wird auch jene vom unendlichen Wirtschaftswachstum enttäuscht.

Deshalb sollte man wie beim chinesischen Kommunismus auch in der Liebe die Perspektive wechseln.

Standard: In der Vorstellung: Spielt auch Pygmalion eine Rolle, der sich seine ideale Frau gebildhauert hat?

Pollesch: Nein, das ist uns zu festgelegt. Ich verstehe das eigentlich auch nicht. Wie kann man vorher schon wissen, was man liebt? Mit Lacan und Freud geht das jedenfalls nicht. Das Begehren, das Fantasma liegen außerhalb von uns. Vielleicht hat Pygmalion zufällig mit dem Ellbogen eine Delle gemacht, und die hat dann die Liebe ausgelöst.

(Margarete Affenzeller, DER STANDARD/Printausgabe, 03.12.2008)