Baltimore - Die Universität, an der ich unterrichte, wurde 1876 mit dem ausdrücklichen Zweck gegründet, höhere Forschung zu unterstützen; daher auch ihr oft geäußerter Anspruch, "Amerikas erste Forschungsuniversität" zu sein. Die Studenten der ersten vier Jahre, im College, gelten meiner Ansicht nach zu Recht als ernsthaft und zielgerichtet - was man in Österreich wohl "Streber" nennen würde.

Diese Eigenschaften und dazu die Tatsache, dass etwa die Medizin einige Meilen von meinem Campus entfernt liegt und die Politikwissenschaft sogar in Washington (mit der bekannten Dependance in Bologna), macht politische Mobilisierung eher unwahrscheinlich.

Während diese Facette US-studentischen Lebens zur Zeit des Vietnamkriegs zum Beispiel an der UC Berkeley zu Studentenprotesten führten, die bis zur Gewalttätigkeit eskalierten, war Johns Hopkins so ruhig, dass Präsident Johnson am 7. April 1965 gerade hier eine Rede hielt, die den sonstigen Campus-Unruhen entgegenwirken sollte.

Daher war es wohl in guter alter Hopkins-Tradition, dass ich den wunderbaren Abend des 4. November 2008, den Sieg Obamas, im Kollegenkreis in der Musikfakultät mit einer Jahrgangsflasche Dom Perignon feierte. Damit entsprach vielleicht ich den Erwartungen, doch der Rest der Uni tat es nicht.

Als die entscheidenden Ergebnisse einlangten und es immer klarer wurde, dass ein brillanter, junger Experte in Verfassungsrecht unser nächster - und erster schwarzer - Präsident sein würde, begannen tausende von Studenten und etliche Professoren, die Straßen um die Uni zu füllen, in einer improvisierten und ausgelassenen Feier, die bis in die Morgenstunden anhielt.

Wie man auch im Fernsehen verfolgen konnte, kam der Verkehr zum völligen Stillstand. 15 Menschen mussten verhaftet werden, unter ihnen ein Anthropologie-Professor. Er trug, wie Tage später in der Uni-Zeitung zu lesen war, die Angelegenheit mit Fassung. "Hopkins ist ja nicht gerade für Partys berühmt" , sagte Laura Gordons, Studentin im vierten Jahr, dem Blatt, "aber der politische Rummel war so groß, und die Leute waren so glücklich, da haben sie sich wohl ein wenig daneben benommen."

Ich glaube nicht, dass die Studenten an unserer Uni oder die US-Amerikaner überhaupt sich einen Heiligen erwarten. Wir sind letztlich doch eine Demokratie, auch wenn der politische Diskurs der letzten Jahre eher nach einer Theokratie geklungen hat. Theokratien dürfen nicht zugeben, dass sie Fehler gemacht haben; Demokratien existieren, damit Fehler korrigiert werden.

Obama wird bald eine Verfügung erlassen, das Militärgefängnis in Guantánamo zu schließen. Das war der erste Fehler, den es zu korrigieren gilt, und wie bei vielen anderen wird das viel Zeit und Arbeit kosten. Aber genau das haben wir am 4. November gefeiert - in der Hoffnung auf Veränderungen. Und dass es Veränderungen zum Guten sein mögen. (DER STANDARD, Printausgabe, 20.1.2008)