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Schreien hat nur selten medizinische Gründe. Meist steckt eine Regulationsstörung dahinter, die Schreibabys daran hindert sich selbst zur Ruhe zu bringen.

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Lea Hof-Vachalek, links, (49) ist Psychotherapeutin, spezialisiert auf Eltern-Säuglings- und Kleinkindtherapie. Sie hat lange im St.Anna-Kinderspital gearbeitet und ist jetzt am Institut für Erziehungshilfe tätig, daneben hat sie eine eigene Praxis.

Katharina Kruppa, rechts (43) ist Kinderärztin und Psychotherapeutin und leitet im Preyerschen Kinderspital die Ambulanz. Sie ist Präsidentin der Gesellschaft für seelische Gesundheit (GAIMH), Lehrtherapeutin an der Sigmund-Freud-Universität und bei Ökids.

 

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Standard: Manche Babys sind zufrieden, andere schreien. Warum?

Hof-Vachalek: Jeder Mensch hat ein anderes Naturell, da unterscheiden sich Säuglinge nicht von Erwachsenen. Und je nach Charakter werden Umwelteinflüsse verarbeitet. Babys nach der Geburt müssen sich ja erst ans Atmen, Trinken und unterschiedliche Wärmeverhältnisse gewöhnen, Eltern unterstützen sie dabei.

Kruppa: Die wenigsten Babys weinen aus medizinischen Gründen. Schreien ist fast immer die Folge einer sogenannten Regulationsstörung. Es geht darum, wie Babys sich wieder zur Ruhe bringen. Manche tun sich leicht, unangenehme Umwelteinflüsse wegzustecken, anderen weniger. Diese Kinder - man erkennt sie daran, dass sie sich beim Liegen viel bewegen, mit den Händen fuchteln - brauchen vermehrt Unterstützung. Es gibt Kinder, die am Anfang nur im Arm einschlafen können.

Standard: Und was ist mit dem berühmten Bauchweh?

Kruppa: Bauchweh ist in den seltensten Fällen die Ursache des Weinens, genauso selten hilft ein Nahrungswechsel. Auch das, was stillende Mütter essen, hat kaum Einfluss auf das Wohlsein des Kindes. Babys mit Regulationsstörungen sind angespannter. Wenn sie viel weinen, schlucken sie Luft, und daraus ergeben sich Verdauungsprobleme.

Standard: Wie lange dauert die erste Anpassungsphase?

Hof-Vachalek: Ungefähr drei Monate, da landen die Babys erst einmal auf dieser Welt, machen erste Erfahrungen. In den Stunden nach der Geburt findet das sogenannte Bonding statt, da verlieben sich Mutter und Kind ineinander.

Kruppa: Das ist enorm wichtig, es ist auch hormonell ein Zustand wie der von Frisch-verliebten.

Hof-Vachalek: Und dann erleben Babys angenehme und weniger angenehme Erfahrungen und merken, welche Rolle Eltern dabei haben. Ein Säugling spiegelt sich in den Augen seiner Mutter, fühlt sich durch sie und ihren Blick wahrgenommen, ja identifiziert sich und beginnt ein Ich aufzubauen, beschreibt es die Kinderanalytikerin Paulina Kernberg.

Kruppa: Der Säuglingsforscher Daniel Stern nennt die erste Phase im Leben eines Menschen "das auftauchende Selbst". Babys können ihre Gefühle ja anfangs nicht differenzieren. Ob sie müde, hungrig oder verspannt sind, lernen sie erst durch die Reaktion der Eltern zu unterscheiden.

Hof-Vachelek: Es ist also vor allem die Übersetzung des Schreiens durch die Eltern, die prägend wirkt.

Kruppa: Und Dinge miteinander koppelt. Der Prozess ist so: Ich fühle mich unwohl, schreie, bekomme was zu essen, erlebe angenehme Sättigung - irgendwann weiß das Baby: "Ah, so läuft das also."

Standard: Welche Eltern haben Probleme?

Hof-Vachalek: Eltern, die selbst keine Sicherheit erfahren haben, fällt es womöglich schwer, sie an ihre Kinder zu vermitteln, und brauchen Unterstützung.

Kruppa: Und natürlich überträgt sich Anspannung, die eine Mutter aus ganz unterschiedlichen Gründen haben kann, auch auf ein Kind. Wenn Mutter und Kind aufeinander eingestellt sind, stärken sie sich gegenseitig, auch wenn rundherum Chaos ist. Genauso gibt es das Gegenteil: Ein Baby, das weint, eine Mutter, die deshalb immer mehr verzweifelt - das ist der Teufelskreis.

Standard: Wie lässt sich ein Teufelskreis durchbrechen?

Hof-Vachalek: Indem Mütter sich Unterstützung holen, sei es von Vätern, Familie, Freunden oder professionellen Support wie etwa im Institut für Erziehungshilfe.

Kruppa: Mütter müssen es zulassen, und Väter müssen sich trauen, denn die Situation, dass Mutter und Kind über längere Zeit ganz allein sind, ist unnatürlich. Wir sind einfach Herdentiere.

Hof-Vachalek: Die Rolle der Väter ist auch zentral. Sie sind meist in einer ganz anderen Befindlichkeit als Mütter und wirken allein schon deshalb auf Babys oft beruhigend. Diese Triangulierung, also das Miteinbeziehen einer dritten Person, ist wichtig. Denn dadurch bleibt eine Verbindung zur Außenwelt erhalten. Säuglinge profitieren von unterschiedlichen Angeboten.

Standard: Wie arbeiten Sie mit Eltern und Babys?

Kruppa: Wir leisten in der Babycare-Ambulanz im Preyerschen Kinderspital vor allem Beziehungsarbeit. Ich bitte Mütter, mir ihre Babys zu beschreiben, ihre Geschichte miteinander, ihre schönen und traurigen Erlebnisse. Mutter und Kind sind wie Magneten, die zusammen- wollen. Nur manchmal steht etwas zwischen ihnen. Im Gespräch bekommt das Raum, oft beginnen Mütter zu weinen. Dann schauen sich Mütter und Babys an und erkennen sich. Und oft ist das ein entscheidender und sehr berührender Moment der Veränderung.

Hof-Vachalek: Manchmal gibt es Missverständnisse zwischen Eltern und Babys, Therapeuten können beim Dolmetschen der nonverbalen Signale des Säuglings unterstützend wirken. Denn Babys nehmen Spannungen, Befindlichkeiten und Atmosphären auf präverbaler Ebene wahr. Wird dies verbalisiert, kann es zu einer "Verständigung" zwischen Säugling und Eltern kommen. Eines ist mir aber auch noch sehr wichtig: Mütter müssen ihren Kindern auch Frustration zutrauen. Zum Beispiel im Krankenhaus. Wenn eine Mutter zu ihrem Kind sagt: "Ich weiß, es tut weh, es ist unangenehm", fühlt sich ein Kind auch verstanden in seinem Schmerz und lernt mit der Zeit, sich zu regulieren.

Standard: Ist das nicht das Konzept Schreien-Lassen?

Kruppa: Nein. Es kann sein, dass sich ein Baby nicht trösten lässt, die Mutter begleitet es durch den Schmerz. Das ist anders als Schreien-Lassen mit einem vermeintlichen Erziehungseffekt.

Hof-Vachalek: Oft irritiert Babys ja gerade das ständige Aufnehmen und Hinlegen. Und wenn ein Kind sich nicht beruhigen lässt und die Mutter selbst nicht mehr kann, ist ein kurzes "Heraustreten" aus dem gegenseitigen Aufschaukeln wichtig. Da geht es um Momente der Distanz, das kann bewusst tiefes Atmen sein.

Standard: Wie lange dauern Kleinkindtherapien?

Kruppa: Meist sehr kurz, weil Babys sich ja unwahrscheinlich leicht helfen lassen. Dafür fehlt in unserer Gesellschaft aber das Bewusstsein. Deshalb haben wir das Netzwerk für interdisziplinäre Gesundheitsförderung rund um Schwangerschaft, Geburt und frühe Kindheit gegründet. Frühkindliche Entwicklung ist unterbewertet in Therapie, Lehre und Forschung. Das wollen wir ändern.

Hof-Vachalek: Denn in den ersten Monaten und Jahren passiert so viel, das das weitere Leben bestimmt. Da ist viel Prävention möglich.

Standard: Ihre Tipps?

Kruppa: Sich keinem Leistungsdruck auszusetzen.

Hof-Vachalek: Frauen müssen oft Beruf und Familie vereinbaren, und Erziehung ist für Eltern dann eine Leistung ...

Kruppa: ... und Kinder müssen funktionieren. Das tun sie aber nicht. Daraus entwickelt sich der Eindruck, eine schlechte Mutter zu sein. Dabei gibt es für ein Kind keine schwerere Last als eine perfekte Mutter. Lea Hof-Vachalek und Katharina Kruppa sind sich einig: Jedes Baby reagiert anders auf Umwelteinflüsse. (Karin Pollack, DER STANDARD Printausgabe, 26.1.2009)