Mathematik-Unterricht in der Integrativen Lernwerkstatt Brigittenau (ILB) mit "Lernbegleiterin" Christiana Pock-Rosei.

Foto: Standard/Cremer

Die Kinder nennen Josef Reichmayr "Tshi Pi" , dabei ist er Direktor der Schule - in dieser darf man ihn sogar beim Essen umarmen.

Cremers Photoblog: Die Schule geht weiter

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Ja, geht das denn?! Dass die Lehrerinnen und Lehrer zwei Stunden mehr unterrichten, wie die Bildungsministerin fordert. Der Standard fragte die Betroffenen, wie es denn so in der Schule gehe. Szenen eines Schultags.

Wien – "Was ist Dividieren?" , fragt Christiana Pock-Rosei die drei Mädchen, die am Boden auf Sitzkissen knotzen. "Gerechtes Teilen" , rufen die Schülerinnen und rechnen. Die vier sind ganz bei sich im Lernzimmer der "Stammgruppe E" . In einer anderen Ecke sitzen zwei Mädchen und arbeiten leise mit Bleistift und Papier. "Die Größeren machen Mathe, die Kleinen Deutsch" , erklärt Medea.

Die größeren Kinder? Die Kleinen? In einer Klasse? Ja. Das geht. Es ist eine etwas andere Schule, die der Standard für einen Besuch in bildungspolitisch aufgewühlten Zeiten ausgesucht hat. Die "Integrative Lernwerkstatt Brigittenau" (ILB) gibt es seit 1998, und vieles, was es in anderen Schulen gibt, gibt es in dieser öffentlichen Volksschule nicht. Zum Beispiel Klassen mit gleichaltrigen Kindern. Zwar ist die Schule von 220 Fünfeinhalb- bis Elfjährigen bevölkert, aber sie sind alle bunt gemischt in zehn "Stammgruppen" mit Buchstabenzusatz. Statt "ich bin in der 4." sagt Dilara: "Ich gehe in die E."

Der Bildungsjargon nennt das "Mehrstufenklassen" , in der ILB sind sie dazu integrativ mit Kindern nichtdeutscher Muttersprache oder besonderen Bedürfnissen und Handicaps (z. B. Kinder mit Down-Syndrom) und reformpädagogisch (z. B. Montessori) geführt.
Etwas sucht man an der ILB noch vergeblich: "Lehrer" . Dort heißen alle Pädagoginnen (von den insgesamt 55 sind sieben Männer), egal, ob sie vormittags als Lehrende oder nachmittags als Erziehende arbeiten, "Lernbegleiterinnen" , und in jeder Stammgruppe sind immer zwei bis drei von ihnen anwesend.

Drei PCs für 55 Pädagogen

Die Kinder beim Lernen begleiten und zwei Stunden mehr unterrichten, wie sich Ministerin Claudia Schmied das vorstellt, geht das denn? "Es darf jeder kommen und schauen, was hinter den Kulissen abläuft" , sagt Lernbegleiterin Doris Wosyka-Liebsch: "Wir arbeiten sicher doppelt und dreifach." Ihr Wunsch: "Qualitätsverbesserung. Man müsste genug Ressourcen schaffen, dass man die Kinder wirklich gut betreuen kann."

"Mein eigentlicher Arbeitsplatz ist in meiner Wohnung" , erzählt Verena Corazza von der "G" . Für die Volksschullehrerin ist es "nicht unvorstellbar, dass Lehrer prinzipiell länger in der Schule sind – wenn Arbeitsplätze geschaffen sind. Wir haben hier nicht einmal einen Tisch, und es gibt drei Computer für über 50 Leute." Nur zwei davon haben Internetanschluss.

Wenn sich im ILB-Haus im 20. Bezirk das gesamte pädagogische Personal zu einer Besprechung treffen will, dann müssen die Tische hinausgeräumt werden, damit wenigstens für alle ein Sessel Platz hat. Immerhin, ein schmales Postfach für jede/n ist inklusive.
Was die 50-Jährige in der aktuellen Debatte noch vermisst, ist, "dass es dem Schulsystem sehr gut täte, wenn man auch junge Lehrerinnen reinlassen und für sie Arbeitsplätze schaffen würde."
Ihre Arbeitszeit mag Corazza erst gar nicht in irgendwelchen Unterrichtshappen berechnen. "An so einer innovativen Schule arbeitet man sicher mehr als 40 Stunden." Unterricht, Vorbereitung, wöchentliche Teambesprechung, Supervision, Elterngespräche – und Schulentwicklung. Denn die ILB wird ab Herbst aufgestockt. Dann können die Kinder bis 14 bleiben. Die ILB wird also eine Gesamtschule. Und keiner dort fürchtet sich davor, im Gegenteil. "Die furchtbare Trennung mit zehn Jahren bleibt den Kindern erspart."

Erspart bleibt den Kindern in der Lernwerkstatt auch das permanente Klingeln nach 50 Minuten. Es gibt einen Lernblock am Vormittag, von 8.30 bis 10 Uhr, dann eine halbe Stunde Pause, weiter geht's mit spielerischem Lernen bis Mittag. Wer mag, kann in der Schule essen. Malu mampfte am Montag Fleischbällchen mit Tomatensoße. Ein gesundes Salatbuffet ist wie Obst obligat, erzählt Anke Schütte vom ILB-Serviceteam, auch bei Tisch wird fürs Leben gelernt: "Unsere Kinder können das ganz toll, ihre Portionen so zu bestellen, dass ganz wenig im Mistkübel landet."

Nur Unterricht genügt nicht

Danach kommen die Nachmittags-Lernbegleiterinnen mit ihrem täglich neuen Programm (Sprachförderung, Ausflüge, Lernstunden, Kinderdisco, Werken etc.) dran. Mülkyie Kapan ist eine von ihnen. Sie sagt zur Schuldebatte: "Das ist eine Katastrophe für die Bildung. Da darf man nicht sparen, sondern muss investieren. Nur Unterricht ist ja auch nicht genug. In der Schule soll viel mehr passieren. Sport zum Beispiel fehlt den Kindern – und genau da sparen sie."

Zum "Schul-Haus" der ILB gehören auch die Eltern. Für Karl Dwulit, als Elternvereinsvorstand zuständig für Schulentwicklung, "ist die Diskussion um zwei zusätzliche Unterrichtsstunden für Lehrer nicht nachvollziehbar, weil ich an dieser Schule Stundenzähler nicht wirklich entdeckt habe" , sagt Dwulit. Er hält Modelle wie die ILB für "ein Fallbeispiel, wie man auch innerhalb der gegebenen Rahmenbedingungen etwas schaffen kann, das den Kindern guttut" . Und darum müsse es doch primär gehen.

Einer wirkt in der Werkstatt des Lernens wie das gravitätische Zentrum trotz oder vielleicht gerade wegen seiner quirligen Omnipräsenz im Schulhaus. Die Kinder nennen ihn "Tshi Pi" , fallen ihm beim Essen lachend um den Hals, lassen sich weinend von ihm trösten, wenn sie "ein schlimmer Bub geboxt hat" – "Tshi Pi" alias Josef Reichmayr ist der Direktor der ILB, und der Kosename ein Relikt aus dessen Jugendzeit in Graz.

"Aberwitziger Zentralismus"

Mehr als die zwei Mehrunterrichtsstunden für Lehrer ärgern Direktor Reichmayr alte Konstruktionsfehler des Schulsystems: "Der aberwitzige Zentralismus vergällt vielen Energie und Engagement. Darüber sollten wir endlich reden." Darüber etwa, dass Schulen hierzulande ihre Lehrerinnen und Lehrer noch immer von oben "zugewiesen" bekommen. "Ohne gelebte Autonomie gehen halt viele in die Depression, wenn die Schulen unmündig gehalten werden" , sagt Reichmayr. Immerhin, unter Ministerin Schmied habe es doch "eine spürbare Entspannung auf der Personalebene gegeben" .

Zurück bei Medea und Dilara. Vor dem Heimgehen noch ein Blick auf die aufgehängten "Gefühlsgesichter" . Morgens stecken die Kinder der Stammgruppe E eine Wäscheklammer mit ihrem Namen zu jenem färbigen Smiley, der ihre Befindlichkeit am besten ausdrückt. "Glücklich" gelb, "ängstlich" rosa, "traurig" blau oder "wütend" rot. Dilara nimmt ihre Klammer vom blauen Band und klemmt sie auf Gelb.

Sie hat an diesem Tag nicht nur Deutsch gehabt und einen Brief geschrieben – sie hat die Schule fröhlicher verlassen, als sie am Morgen war. Vielleicht ist es das, was gelungene Schule ausmacht. (Lisa Nimmervoll/DER STANDARD Printausgabe, 11. März 2009)