Ungeklärte Familienverhältnisse als Vorwurf für die Wirklichkeit: Isabella Suppanz inszeniert nach einem Franz-Nabl-Roman.

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Parallelen zur Wirklichkeit sind möglich. Doch Literatur kann mehr. 

St. Pölten - Die  Premiere von Franz Nabls Die Ortliebschen Frauen im niederösterreichischen Landestheater (Do., 12.3., 19.30 Uhr in St. Pölten) bildet den wenig erheiternden, aber tiefenscharfen Abschluss zum Skandalverbrechen des vergangenen Jahres. Im Falle „F." - er wird die Gerichtsberichterstatter in den kommenden Wochen noch ausgiebig beschäftigen - errichtet ein gesellschaftlich respektabler Mann einen unterirdischen Kerker. In dieses Verlies wirft er seine Tochter, um mit ihr eine inzestuöse „Parallelfamilie" zu gründen.

Helmut Peschinas Theaterfassung des 1917 entstandenen Nabl-Romans ist um nichts weniger beklemmend. Sie zerstört das Idealbild der Familie nur anders: heimtückischer. Hier ist der Vater tot. Die Mutter, eine Näherin, tritt ihr Regime an die älteste, sexuell unerweckte, aber umso machtbewusstere Tochter ab.

Ein einziger Mann lebt noch in dem Vier-Köpfe-Haushalt (Mutter, zwei Schwestern, ein Bruder): Walter, der an einem Klumpfuß leidet. Ihm wird der Prozess gemacht. Walter ist das Opfer der Zuwendung durch viel zu viele Frauen. Oder, wie Intendantin Isabella Suppanz ausführt, die Die Ortliebschen Frauen in St. Pölten inszeniert: „Der Fall F. interessiert uns insofern nicht, als wir uns bereits für den Stoff entschieden haben, ehe er publik wurde."

Walter wird am Höhepunkt der Familienabschottung von der fürsorglichen ältesten Schwester in einen Keller gesperrt (Letztere gemimt von Chris Pichler). Suppanz: „Der Feind lauert im Inneren. Familien, die in Not sind, halten ganz einfach enger zusammen." Der maliziöse Unterton ist nicht zu überhören. Die Ortliebschen Frauen, 1979 von Luc Bondy luxuriös mit Edith Clever und Libgart Schwarz verfilmt, feiert ein letztes Mal die kleinbürgerliche Familie als Brutstätte des Terrors. Suppanz beglaubigt den Wahrheitsgehalt einer Versuchsanordnung, die sich Ödön von Horváth und Michel Foucault gemeinsam ausgedacht haben könnten. Von Horváth stammen die beschwichtigenden Volkstheater-Töne. Von Foucault, dem Philosophen der Macht, kommt die Einsicht in das reibungslose Funktionieren von Unterdrückung.

Belebende Wirkungen

Suppanz, die gelernte Dramaturgin, einst unverzichtbarer Kopf am Wiener Josefstadt-Theater, leitet das Landestheater seit 2005. Sie erweckte das Haus aus dem provinziellen Schlummer, indem sie vor Ort das „gehobene Schauspielertheater" installierte, um andererseits nach der großen, weiten Welt zu schielen. Wenn die St. Pöltener vordem nicht gewusst haben sollten, wer der radikale Boulevardtheoretiker René Pollesch ist - jetzt wissen sie es.

Suppanz lädt ein. Auf ihrer Liste stehen: Martin Wuttke, Peter Brook, Josef Bierbichler und andere Stars. Sie lädt nichts auf ihrer Stammkundschaft ab: „Wir haben das Haus konsolidiert und freuen uns über eine ,echte‘ Auslastung von 92 Prozent." Ihr Idealbild vom Theater? „Das Schauspielertheater. Ich plädiere für die Nachvollziehbarkeit von Geschichten." Obwohl: „Es gibt zu wenige Labors." Gut möglich, dass sie an der Behebung auch dieses Übels arbeitet. (Ronald Pohl / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12.3.2009)