Marius Reiser: "Gerade Intellektuelle hätten weiterdenken müssen."

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Vor zehn Jahren haben Bildungsminister beschlossen, die Hochschulen in Europa vergleichbar zu machen und das Bologna-System einzuführen. Marius Reiser, einst Theologie-Professor an der Universität Mainz, hat kürzlich seine Professur aus Protest gegen Bologna zurückgelegt. Im derStandard.at-Interview kritisert er seine KollegInnen an den Unis, beklagt den "Verlust der akademischen Freiheit" sowie die Selbstständigkeit, die seit Bologna unter den Studierenden verloren gegangen sei. Die Fragen stellte Katrin Burgstaller.

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derStandard.at: Sie haben Ihre Professur zurückgelegt. Ist das definitiv oder haben Sie ein Rückkehrrecht?

Reiser: Ich bin aus dem Beamtenverhältnis entlassen. Der Lehrstuhl wird neu ausgeschrieben.

derStandard.at: War es leicht, diese Entscheidung zu treffen?

Reiser: Ich habe von Anfang an erklärt, dass ich Bologna nicht mittragen werde, aber doch drei Jahre mit der Entscheidung gerungen, meine Professur niederzulegen. Seit dem laufenden Sommersemester müsste ich mich auch an unserer Fakultät in einem Bologna-Studiengang beteiligen. Da wollte ich nicht mitmachen und deshalb bin ich jetzt gegangen.

derStandard.at: Bologna ist ja schon länger im Gespräch. 1999 haben die EU-Bildungsminister beschlossen, das Bologna-System einzuführen. Waren die radikalen Veränderungen für die Unis damals nicht absehbar?

Reiser: Eigentlich nicht. Bei uns in Deutschland hätte alles beim Alten bleiben können. Von Bachelor und Master war in der Bologna-Erklärung, die übrigens keinerlei völkerrechtliche Verbindlichkeit hat, keine Rede. Auch von der Modularisierung ist darin keine Rede. Man sieht ja auch, dass es in der Umsetzung europaweit Unterschiede gibt. Im übrigen habe ich mich um Universitätspolitik nie gekümmert. Ich habe mich überhaupt um Politik nicht gekümmert.

derStandard.at: Gehört es nicht zur Aufgabe eines Hochschullehrers, sich mit Universitätspolitik zu beschäftigen?

Reiser: Inzwischen habe ich begriffen, dass das absolut notwendig wäre. Die europäischen Großindustriellen haben schon 1995 die Linien für Bologna vorgegeben. Sie haben Modularisierung, ständige Kontrolle und Quantifizierung der Leistungen gefordert. Auch stärkere Kooperationen zwischen der Industrie und den Universitäten wurden gefordert. Über die Hochschulräte haben Vertreter der Industrie inzwischen einen starken Einfluss auf die Gestaltung der Universitäten.

derStandard.at: Wären die Hochschullehrer wachsamer gewesen, als Bologna eingeführt wurde, hätte man dann etwas verändern können?

Reiser: Daran besteht kein Zweifel. Das ganze System hätte nicht eingeführt werden können, wenn sich die Hochschullehrer gewehrt hätten. Meine Kollegen haben aber von Anfang an gesagt, das ist Zwang von oben, man kann nichts dagegen machen und lokaler Widerstand ist zwecklos. Tatsächlich wurde mit diktatorischen Maßnahmen in die inneren Angelegenheiten der Universitäten eingegriffen. Man hat uns die akademische Freiheit genommen, die uns sogar grundgesetzlich garantiert ist.

derStandard.at: Sie sind nicht der einzige Hochschullehrer, der am Bolognasystem grobe Mängel feststellt. Trotzdem melden sich dazu wenige zu Wort. Ist das nicht ein Armutszeugnis?

Reiser: Doch, das ist ein Armutszeugnis, das kann man wohl kaum anders nennen. Und es ist nicht nur ein Armutszeugnis, sondern auch ein Zeichen von Verantwortungslosigkeit. Die Hochschullehrer verzichten ja nicht nur auf ihre eigene Freiheit, sondern auch auf die Freiheit der Studierenden. Sie haben den Studierenden ein Joch auferlegt, indem sie das System akzeptiert haben. Gerade Intellektuelle hätten weiterdenken müssen. Ich kann es verstehen, dass sie nicht einen solchen Schritt wie ich gewählt haben. Aber sie hätten die normalen Mittel des Widerstandes wählen müssen.

derStandard.at: Die Professoren sollten die Jungen doch eigentlich zum kritischen Denken anregen und beispielhaft agieren.

Reiser: Sie denken ja kritisch. Reden können die Professoren schön. Schon in der Bibel heißt es: Haltet euch an das was sie sagen, aber nehmt euch nicht zum Vorbild, was sie tun (Matthäus 23,3).

derStandard.at: Ist es jetzt zu spät für den Protest?

Reiser: Zu spät ist gar nichts. Ab 2010 sollen die Studiengänge wieder neu akkreditiert werden. Da müsste man sich weigern. Die Akkreditierungsfirmen sind nicht demokratisch legitimiert. Außeruniversitäre Privatvereine machen uns in Deutschland Vorschriften über die inneren Strukturen des Studiums und verlangen pro Akkreditierung eines Studiengangs 10.000- 15.000 Euro. So etwas Absurdes hat es in 800 Jahren nicht gegeben. Dazu könnten wir jederzeit nein sagen.

derStandard.at: Was sind die größten Unterschiede zwischen AbsolventInnen vor und AbsolventInnen nach Bologna?

Reiser: Der entscheidende Unterschied ist die Selbstständigkeit. Im früheren System war es das Ziel, die StudentInnen zum selbstständigen Arbeiten und Denken zu erziehen. Die Voraussetzung dafür ist eine gewisse akademische Freiheit. Selbstständig werden kann man ja nur, indem man Selbstständigkeit ausübt. Genau das soll gemäß Bologna nicht vermittelt werden. Es geht weiter wie in der Schule, man soll Stoff pauken. Die Studenten können über ihre Zeit nicht mehr selbst verfügen, da in den meisten Lehrveranstaltungen Anwesenheitspflicht besteht. Und: Seminararbeiten werden jetzt in der Regel in 14 Tagen abgehandelt, weil sie noch innerhalb des Semesters abgegeben werden müssen. Eine ernsthafte Heranführung an die Wissenschaft ist so nicht möglich.

derStandard.at: Wer könnte sich dafür interessieren, weniger selbstständige AbsolventInnen hervorzubringen?

Reiser: Hauptsächlich die Industrie scheint sich für gut ausgebildete, anpassungsfähige Leute und nicht selbstständig wirkende Persönlichkeiten zu interessieren.

derStandard.at: Wie kann es sein, dass sich Hochschullehrer, die sich im alten System etabliert haben, so einfach in das Bologna-System transferieren lassen?

Reiser: Wenn der Senat und der Präsident das Bolognasystem akzeptiert haben, hat der einzelne Hochschullehrer nicht mehr die Freiheit, dagegen zu sein. Deshalb blieb auch mir nur die Möglichkeit des Ausscheidens. Was einem Hochschullehrer passiert, der einfach nicht mitmacht, das wissen wir noch nicht.

derStandard.at: Ein Argument für Bologna ist die Vergleichbarkeit der europäischen Hochschulen ...

Reiser: Die ist illusionär. Das ECTS-Punktesystem bewertet die reine Arbeitszeit. Das ist eine Abstraktion, die in sich sinnlos ist. Die ECTS-Punkte werden ausserdem ganz willkürlich verteilt. Vergleichbarkeit und Mobilität haben sich dadurch verschlechtert.

derStandard.at: Die Vergleichbarkeit will man auch in den Schulen erzielen. In Österreich werden Bildungstandards und die Zentralmatura eingeführt.

Reiser: Das ist eine üble Gleichmacherei auf niedrigem Niveau. Im Jahr 1927 hat J. K. Chesterton zur Hundertjahrfeier des University College London einen Vortrag über die kommende große Gefahr für die Kultur gehalten. Diese Gefahr sah er in der Standardisierung auf niedrigem Niveau. Genau das strebt man mit dem neuen System bewusst an. An den Schulen und Universitäten wird alles auf ein Mittelmaß hinuntergedrückt. Unterschiede in der Begabung werden kaum berücksichtigt und Begabtenförderung spielt keine große Rolle. Dafür kann kein gebildeter Mensch sein. (Katrin Burgstaller, derStandard.at, 17. Juni 2009)