Bild nicht mehr verfügbar.

Irakische Flüchtlinge an der jordanischen Grenze im März 2003. Ausgestattet mit wenig Habseligkeiten und einer bestenfalls vagen Hoffnung

Foto: REUTERS/Gleb Garanish

Vor sechs Jahren floh Ali aus dem Irak nach Österreich. Seitdem lebt und studiert er in Wien. In der Grauzone zwischen  Asyl und Nichtasyl sieht er einer ungewissen Zukunft entgegen - Von Konstantin Teske

***

Wien - Der Psychologe Abraham Maslow stellte die Hierarchie der menschlichen Bedürfnisse als Pyramide dar. Als Fundament dienen elementare Bedürfnisse wie Nahrung und Schlaf, zur Spitze hin verfeinern und abstrahieren sich diese hin zur Selbstverwirklichung.
Genauso ließe sich eine Stufe einziehen, auf der in fetten Lettern „Heimat" prangt. Wie Selbstverwirklichung eine sprachliche Verdichtung menschlichen Sehnens. Ali*, im Jänner 2003 aus dem Irak geflohen und seitdem in Wien, definiert Heimat über andere Symbole: „Freiheit und Sicherheit."

Der 29-Jährige, seit Wintersemester 2005 Student der Uni Wien, hat vorerst bis 2010 den Status „subsidiär schutzberechtigt", eine befristete Aufenthaltsberechtigung für Asylwerber, die zwar keinen positiven Asylbescheid erhalten haben, aber, weil sie in Lebensgefahr wären oder ihnen Folter drohen würde, nicht in ihr Herkunftsland abgeschoben werden können.

"Ihr seid in Deutschland", sagt der Fahrer

Selbst wenn sich die Situation im Irak bessert - Ali würde in ein Land zurückkehren, das seit 2003 eine fortwährende Zerfleischung erlebt und aus dem all seine Verwandten und Freunde geflohen sind. Große Teile seines Viertels in Bagdad wurden zerstört. Heimat sieht anders aus.
Seiner Ankunft in Österreich gingen 14 Tage Dunkelheit voraus. In der Nacht umsteigen, raus ins Dunkle, rein ins Dunkle. Mit zehn anderen zusammen, versteckt zwischen Schachteln. Etwas Kleidung und hundert Dollar dabei. „Ihr seid in Deutschland", sagt der Fahrer, der sie in einem kleinen österreichischen Grenzdorf absetzt, und ist dahin. 

Orientierung - Das hat mir gefehlt

Bundesheersoldaten bringen sie zur Polizei, die verteilt die Flüchtlinge auf verschiedene Heime und Lager. „Orientierung. Das hat mir gefehlt." - Zwar meint er, als er das sagt, nur das Wort, dass ihm entfallen ist, aber es beschreibt auch seine ersten 18 Monate in Österreich, die Zeit, die er warten musste, um ein Mensch zu werden, „ein Mensch mit Identität". Die Zeit ohne Ausweis, der ihm erst nach dem Erstgespräch am Bundesasylamt zustand.

Der Seufzer des Anstoßes

„In der Mitte des Problems", zitiert Ali seinen schon 1995 in den Libanon geflohenen Vater, hätten sie im Irak gelebt, wenige hundert Meter vom Regierungspalast entfernt. Über das Problem sprach man nicht, weder mit der Familie noch mit Freunden. Es gab damals viele Menschen, die die Aufgabe hatten, zu hören, was noch nicht gesagt wurde.

Als Ali einigen seiner Kommilitonen das Prinzip demokratischer Wahlen erklärte, glaubte einer seiner Kollegen den Stoßseufzer der Sehnsucht darin zu vernehmen. Seufzen galt als subversiv, tags darauf wurde er vom Geheimdienst abgeholt, zehn Tage lang beschimpft, gedemütigt, geschlagen.
Die lange gewälzte Überlegung zur Flucht reifte zur Entscheidung. Seine Mutter verkaufte das Auto, um den Schlepper zu bezahlen, und zusammen mit anderen fuhr er in den Nordirak, von dort aus nach Österreich. Seine Brüder blieben bis 2006, seine Mutter bis 2007 im Irak, sie überlebten Krieg und Bürgerkrieg.

Mit welchem Gefühl denkt man über Zukunft nach, wenn der Einschnitt der Abschiebung immer mitgedacht werden muss? Ali verwendet das Bild der Pyramide.
Lange Zeit nahm ihm die Sorge um die, die geblieben sind, den Raum, den andere mit Zukunftsplänen tapezieren. Nachdem alle in relativer Sicherheit im Libanon oder in Syrien waren, verschob sich etwas in Alis Pyramide, dass ihn wieder mehr auf sich selbst verwies. 

Seitdem arbeitet er, mit einem ungerührten Datum im Rücken, auf seinen Studienabschluss hin, mit der Aussicht, in ein Land zurückzumüssen, in dem er keinesfalls bleiben wird.

Die Bilder der anderen 

Ali spricht fließend Deutsch, jene Scham, die den Anfänger angesichts der Übermacht der fremden Sprache oft ohnmächtig zurücklässt, begann nach dem zweiten Semester zu schwinden. Die andere, größere Scham aber - die, als Asylwerber erkannt zu werden - konnte er bis heute nicht abschütteln.

Wieso? „Schlechtes Image."

Seit über sechs Jahren lebt er in Österreich, er könnte sich, sollte sein subsidiärer Schutz nicht verlängert werden, auf den Artikel 8 - Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens - der Europäischen Menschenrechtskonvention berufen und Bleiberecht beantragen. Den österreichischen Behörden aber steht es frei, gegen diesen Wunsch etwas ins Treffen zu führen, dass der Kontrolle Alis entzogen ist: das öffentliche Interesse. (Konstantin Teske, DER STANDARD Printausgabe 28.5.2009)