Neun Männer und eine Frau tanzen an den Konstruktionselementen eines Songs, der eine Metapher für das Leben sein könnte, in dem sich die Musik auch nicht immer nach Wunsch einstellt.

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"You may be a lover, but you ain't no dancer."

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Wien - Das Stück heißt The Song, und es dauert eineinhalb Stunden, bis die einzige Musikeinspielung erfolgt. Abrupt und laut - Helter Skelter von den Beatles. Und ebenso unvermittelt, wie dieser Song in die Stille des Theaters einschlägt, wird er wieder abgebrochen.

Mit dieser neuen Arbeit setzt die belgische Star-Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker ihren Ruf als massentaugliche Tanzschaffende aufs Spiel. Und sie liefert - in Zusammenarbeit mit der Lichtdesignerin Ann Veronica Janssens und dem bildenden Künstler Michel François - ein Meisterwerk ab.

Dominant in The Song ist die weitgehende Abwesenheit von Musik - bei einer Choreografin, die als Koryphäe in der feinsinnigen Auswahl von Kompositionen gilt, ein radikales Statement. Es überwiegen jene Geräusche, die Tänzer und Publikum beim Performen und Rezipieren hervorrufen. Einzelne Arbeitsschritte der neun männlichen Tänzer werden in bestimmten Momenten von der einzigen Frau auf der Bühne herausgepickt und verstärkt: So begleitet etwa ihr soundverstärkter Schuh gewisse Soli und Duette, oder das Quietschen einer Hand auf feuchtem Tanzboden kommentiert Teile des Geschehens. Aus einer Kiste holt die Performerin ein Kissen, eine Folie oder ein Seil und erzeugt damit Geräusche. Einer der Tänzer singt ein paar Zeilen, bricht wieder ab. Ein anderer bewegt den Mund, wie um zu singen, bringt aber keinen Ton hervor.

Janssens' Choreografie des Lichts prägt die Dramaturgie des Stücks. Aus der anfänglichen Auditoriums- und Bühnenbeleuchtung wird eine komplexe Struktur aus Bühnenausleuchtung, Blackouts, Halbdunkel, dem Einsatz eines Hauptscheinwerfers auf dem Boden des Proszeniums und dem Zusammenspiel mit einer großen, über den Köpfen der Tänzer hängenden, einen Baldachin bildenden Silberfolie, die Lichtfänger und Klangverstärker zugleich ist.

Dieses Objekt wird immer wieder bewegt und bildet gegen Ende einen Vorhang, der, von dem Hauptscheinwerfer angeleuchtet, langsam und knisternd zu Boden sinkt.

Das langsame Absenken dieses Vorhangs mit dem Glitzertanz des Lichts auf seiner Oberfläche und der atemlosen Stille, in die nur das Rascheln der Folie Musik macht, gehört zu den schönsten Momenten in der jüngeren zeitgenössischen Choreografie überhaupt.

In der Inszenierung und Organisation ihrer Tänzer hat Keersmaeker alle Attitüden der Verkleidung und Verführung aufgegeben. Zehn junge Menschen führen einen Ablauf vor, in dem es um die Leerräume und Konstruktionselemente hinter den spektakulären Oberflächen von Songs geht. Ganz klar ist Keersmaekers Tanzstil zu erkennen, diesmal bar jeder Koketterie, sondern als hoch differenziertes Kommunikationsmaterial mit Bruchstücken von erzählerischen Gesten und spielorientierten Handlungsanweisungen.

Charles Manson: Ein Tänzer?

Mit Helter Skelter wollten die Beatles 1968 die härteste Nummer der damaligen Popmusik spielen. Im Refrain heißt es: "You may be a lover, but you ain't no dancer." Und ausgerechnet Charles Manson verwurstete den Songtitel in seinen Visionen von einem apokalyptischen Rassenkrieg.

Liest man Keersmaekers Stück mit Patrick Parks schönem Lied Life Is A Song als Metapher auf das Dasein und projiziert diese Metapher auf Helter Skelter, dann wird die überwiegende Düsternis in diesem Stück klar: weil alles missbraucht werden kann und somit den Samen des Untergangs in sich trägt. Ein "Lover" zu sein ist nicht genug. Darüber hinaus zu tanzen führt erst dazu, sich zu bewegen wie die flüchtige Liebe selbst.

In diesem Sinn ist Keersmaeker wieder mehr Tänzerin geworden. Ihr Stück Rosas danst Rosas, das der Künstlerin 1983 den Durchbruch brachte, macht - bei Impulstanz ab 27. Juli - klar, wo in ihrer Werkbiografie die Voraussetzungen für The Song liegen. (Helmut Ploebst, DER STANDARD/Printausgabe, 20.07.2009)