Was zu Beginn des heurigen Schuljahres als "Schulreform" diskutiert wurde und wird - die Änderung der Schulverwaltung und ein neues Lehrerdienstrecht -, könnte man mit der "Reform" eines Restaurants vergleichen, bei dem die Buchhaltung und die Einrichtung erneuert werden. Solange sich in der Küche nichts ändert ... Echte Schulreformen betreffen die Struktur und das Funktionieren des Schulsystems, und da gibt es seit Jahrzehnten den größten Handlungsbedarf bei der Schulstufe der Zehn- bis 14-Jährigen: Stichwort Gesamtschule.

Wer sich in Österreich zum Thema Gesamtschule äußert, muss mit Ressentiments, Unterstellungen, Befürchtungen und jeder Menge Unwissen rechnen. Als der früh verstorbene Innsbrucker Erziehungswissenschafter Peter Seidl vor mehr als 30 Jahren im südsteirischen Retzhof einen brillanten Vortrag hielt, in dem er die Mängel der selektiven Schulorganisation und das Potenzial der Gesamtschule als fairere, begabungsgerechtere Schulform aufzeigte, knisterte die Luft im Saale vor den Aggressionen der anwesenden Gymnasiallehrer.

Seidl war einer jener neueren Generation von Pädagogen, deren Aussagen nicht mehr auf unbefragten Glaubenssätzen ("Österreich hat eines der besten Schulsysteme der Welt" ) und ideologischen Postulaten ("Gesamtschulen bewirken Nivellierung nach unten" ), sondern auf sozialwissenschaftlichen Forschungsbefunden und rationalen Argumenten beruhten. Mit damals noch ganz neuen empirischen Daten wies er nach, dass die frühe schulische Auslese psychometrisch unverlässlich ist, dass die Trennung der Bildungswege in Gymnasien und Hauptschulen zu sozialer Segregation führt und Kinder aus bildungsfernen Familien massiv benachteiligt.

"Jo mei ... da hamas ..."

Unmittelbar nach seinem Vortrag wurde Seidl gefragt: "Waren Sie einmal Lehrer in einer Schule?" Für die Korrektheit der Seidl'schen Daten und die Unwiderlegbarkeit seiner Argumente war die Antwort auf diese Frage völlig irrelevant. Als Seidl erklärte, nie Lehrer gewesen zu sein, ging eine Welle sarkastischer Geringschätzung durch die Reihen der Lehrerschaft "... Jo mei ... na bitte ... da hamas ..." ; sein Vortrag versank in einem Meer von unbelehrbarer Entrüstung. Seidl war "keiner von uns" .

Vielleicht bleibt Rupert Vierlinger und seinem Buch Steckbrief Gesamtschule ein ähnliches Schicksal erspart, denn er ist offensichtlich "einer von ihnen" . Vierlinger war jahrzehntelang Lehrer, sodann Lehrerbildner, Direktor der Bischöflichen Pädagogischen Akademie in Linz und schließlich Pädagogikprofessor an der Universität Passau. Wie Hartmut von Hentig, der große alte Mann der deutschsprachigen Pädagogik, der als Professor der Universität Bielefeld eine der interessantesten deutschen Gesamtschulen, die Laborschule Bielefeld gründete, wollte sich Vierlinger nicht damit begnügen, schulreformerischer "Wegweiser" zu sein, sondern auch wissen, wie eine Gesamtschule funktioniert. Er nutzte die Notwendigkeit, für die Hauptschullehrerbildung seiner Akademie eine Übungsschule einrichten zu müssen, als "window of opportunity" und gründete sie als echte Gesamtschule. Wie ein medizinischer Forscher, der von der Richtigkeit seiner Therapie überzeugt ist und sie im Selbstversuch erprobt, bot Vierlinger seiner Tochter an, diese Versuchschule zu besuchen; der Erfahrungsaustausch zwischen der Tochter in der kinderfreundlichen Gesamtschule und dem Sohn in einem traditionellen Gymnasium ist eine der vielen kleinen Gemmen dieses Buches.

Vierlingers Ausführungen haben einerseits die Autorität des kritisch-analytischen Erziehungswissenschafters, andererseits die Authentizität und "schulische Bodenhaftung" des langjährigen Praktikers. Ohne Polemik, aber auch ohne die im österreichischen Bildungsdiskurs übliche Bereitschaft, unangenehme Fakten zu verdrängen und unglaubwürdige Kompromisse einzugehen, rechnet Vierlinger mit der pädagogischen Dürftigkeit, der Gnadenlosigkeit und der Schlampigkeit der gegenwärtigen Gymnasialselektion und ihren Kollateralschäden ab. Indem er die meist in sozialwissenschaftlicher Fachsprache verschlüsselten Ergebnisse der Bildungsforschung lesbar aufbereitet und mit einer Fülle kleiner, oft humorvoller Fallbeispiele aus dem (ober)österreichischen Schul- bzw. Schüleralltag verknüpft, zeigt er auf, wie die systemischen Mängel einer inkompetenten Bildungspolitik und einer obsoleten Schulorganisation von den einzelnen Familien individuell, privat und in vielen Fällen leidvoll abgearbeitet werden müssen.

Ein wiederkehrendes Leitmotiv dieses Buches ist die "echte" Gesamtschule. Vierlinger verwahrt sich dagegen, dass auf der Basis der Erfahrungen mit deutschen Pseudo-Gesamtschulen Verallgemeinerungen über die Qualität und Förderwirkung von Gesamtschule an sich gemacht werden. Es sei absurd und unfair, die Leistungen und das Image dieser "falschen" Gesamtschulen, die mit dem traditionellen Schulsystem nicht friedlich koexistieren, sondern an diese durch "Creaming" ("soziales Absahnen" ) die leistungsfähigeren Schüler und die ambitionierten Eltern verlieren, mit denen von Gymnasien zu vergleichen.

Eher ein Plädoyer

Wer wissen möchte, wie richtige Gesamtschulsysteme funktionieren, der möge sich in Skandinavien oder in Kanada umsehen, wo es auf der Sekundarstufe I nur Gesamtschulen gibt, die gesamtschul-adäquate Lehrpläne, individualisierte Lern- und Unterrichtsformen und für die Ansprüche von Gesamtschulen ausgebildete Lehrer haben.

Vermutlich hat sich irgendjemand beim Böhlau-Verlag den flotten Buchtitel Steckbrief Gesamtschule ausgedacht. Steckbrief? Ein Titel wie Gesamtschule - ein Plädoyer hätte eher gepasst. Denn wie ein Staatsanwalt, der seinen Fall vor einem Gerichtshof mit den obersten Richtern Wahrhaftigkeit, Fairness und Demokratie vorträgt, zeigt Vierlinger, Beweisstück für Beweisstück, die schädlichen Nebenwirkungen des bestehenden Ausleseschulsystems und das humanere Potenzial des Gesamtschulmodells auf, einer Schulorganisation, die zumindest bis zum Ende der Schulpflicht der Individualisierung, der Förderung und der Lust am Lernen Vorrang gibt vor den sogenannten schulischen Sachzwängen.

Nicht alle Leser werden mit diesem Buch Freude haben. Um ihre Statuserhaltung besorgte Gymnasiallehrer und um die Privilegien ihrer Kinder besorgte Bildungsbürger werden alarmiert sein, dass ihnen nicht ein alter Linker, sondern ein gütiger gebildeter Katholik die schulpolitischen Leviten liest. (Karl-Heinz Gruber, DER STANDARD, Printausgabe, 17./18.10.2009)