Ingo Metzmacher: "Schostakowitschs Musik hat die rohe, ungefilterte Kraft der Natur, der Begierde, der Gewalt. Es wird keine Liebesarie gesungen - es geht gleich zur Sache, nämlich ins Bett."

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Standard: Sie haben im Sommer in Salzburg Nonos "Al gran sole" dirigiert, dann waren Sie mit Ihrem Deutschen Symphonieorchester auf Tournee. Zwischendurch schreiben Sie Bücher; nun sind Sie an der Staatsoper eingesprungen. Wann machen Sie denn Urlaub?

Metzmacher: Es war heuer ein bisschen wenig Urlaub, das ist richtig. Aber, da ich in Berlin das Saisonthema "Versuchung" habe: Der Versuchung, eine Premiere an der Wiener Staatsoper zu leiten, nachdem ich mit Chor und Orchester in Salzburg so gut zusammengearbeitet hatte, und noch dazu ein Stück, das mir so am Herzen liegt, konnte ich einfach nicht widerstehen.

Standard: Sie haben sich als versierter Operndirigent einen Namen gemacht, gelten aber auch als entschiedener Verfechter zeitgenössischer Musik. Ein Widerspruch?

Metzmacher: Das finde ich nicht, mein Repertoire bei der Oper ist nicht viel anders als beim Konzert. Ich gelte als Spezialist für das 20. Jahrhundert, aber sehe mich eher als Generalisten in der Tradition der deutschen Kapellmeisterei. Es ist ja in Deutschland üblich, über die Oper zu gehen, wenn man Dirigent werden will. Das ist kein einfacher, aber ein lehrreicher Weg.

Standard: Braucht die Oper nicht andere Tugenden als die Arbeit an komplexen neuen Partituren?

Metzmacher: Ich glaube, in der Oper ist vor allem gefragt, dass man einen Sinn für das Theater hat und mit sängerischer Energie umgehen kann, sich von ihr inspirieren lässt und umgekehrt. Das ist natürlich etwas anderes, als eine komplexe Partitur einzustudieren. Aber ich finde es genauso spannend.

Standard: Nach Konzerten mit Britten, Furrer, Scelsi, Messiaen und dem Nono-Projekt begegnen Sie nun den Musikern der Wiener Philharmoniker im Orchestergraben. Das Orchester hat sich in letzter Zeit neuen Klängen zunehmend geöffnet. Ist es darin schon routiniert?

Metzmacher: Ich halte Routine für keinen positiven Begriff. Bei Nono hat mich extrem gefreut und überrascht, dass sie so fordernd und bereit waren, sich darauf einzulassen. Das Wichtigste ist nicht Routine, sondern Neugier. So unterschiedlich ist ja die Musik nicht. Es geht immer darum, einen sprechenden, schönen Klang zu erzeugen. Und da die Wiener davon viel haben, können sie, wenn sie wollen, auch in der Moderne viel geben. Ich habe bei meiner Arbeit hier nie einen Vorbehalt gespürt.

Standard: Sie haben den Ruf, bei den Proben unerbittlich genau zu sein. Wie findet man von der Analyse zum großen Bogen?

Metzmacher: Die grundsätzliche Schwierigkeit beim Probieren ist, dass man den Fluss einüben muss, dass die Musik in einer gewissen Weise fließt. Das erreicht man nicht durch ständiges Unterbrechen. Das ist ein Widerspruch. Die Kunst ist, herauszufinden, welche Stellen man klären muss, damit auch die anderen funktionieren. Das hat viel mit Erfahrung zu tun. Und manchmal, wenn man genau das richtige Tempo erwischt, fallen die Töne an den richtigen Ort.

Standard: Wenn man Ihnen beim Dirigieren zusieht, merkt man den Spaß an der Freud. Gibt es für Sie auch Punkte, wo Sie es vermeiden, allzu sehr mitgerissen zu werden?

Metzmacher: Ich glaube nicht, dass ich ein Kontrollfreak bin. Aber: Busoni hat gesagt, dass auch der größte Ausdruck eine Ökonomie braucht. Das wird manchmal vergessen. Manchmal verwechselt man Hingabe mit dem Resultat. Da ich mich schon immer für die Frage interessiert habe, warum Musik so ist, wie sie ist, wird mir immer wieder unterstellt, ich wäre ein Analytiker. Für mich ist es aber wichtig, dass ich immer weiß, an welcher Stelle des Stückes ich mich befinde. Das ist wie bei einem Radrennen: Wenn es fünf Berge gibt und jemand alles beim ersten gibt, wird er hinterher einbrechen.

Standard: Manche Gedanken aus Ihrem ersten Buch "Keine Angst vor neuen Tönen" reichen ins Philosophische. Kommt bei Ihnen zuerst das Hören oder das Denken?

Metzmacher: Nono hat gesagt, Komponieren von Musik ist Denken, wobei ich glaube, dass Komponisten in Tönen denken. Aber ich würde nicht sagen, dass ich erst denke. Ich liebe das unmittelbare Hören sehr.

Standard: Dass unmittelbares Hören auch bei Neuer Musik möglich ist, wird von vielen nicht wahrgenommen. Woher kommen solche Blockaden und Ängste?

Metzmacher: Das ist natürlich Unfug, denn gute Musik hat immer auch einen emotionalen Gehalt. Warum haben wir Angst? Es ist Verunsicherung, das Unbekannte, von dem wir nicht wissen, was es mit uns macht. Wir fühlen uns nicht mehr auf festem Grund - ich glaube, es hat sehr viel damit zu tun. Das Hören beeinflusst uns viel direkter als das Schauen. Platt gesagt: Man kann auch wegsehen. Mit dem Hören ist das schwieriger.

Standard: Schostakowitschs "Lady Macbeth von Mzensk" ist eng mit der sowjetischen Geschichte verbunden und hat sogar einen Diktator verunsichert: Stalin hat sie in der "Prawda" regelrecht vernichtet. Wo liegt für Sie die Kraft des Stücks?

Metzmacher: Es hat eine rohe, ungefilterte Kraft, die Kraft der Natur, der Begierde, der Gewalt. Es wird alles so gezeigt, wie es ist, auch in der Musik. Schostakowitsch stellt die Menschen einfach so dar, wie sie sind. Es wird keine große Liebesarie gesungen, sondern es geht gleich zur Sache, nämlich ins Bett.

Standard: In der Staatsopernproduktion wird mehr Musik zu hören sein als üblich. Welche ist das?

Metzmacher: Weil wir zwischen dem dritten und vierten Akt einen Umbau machen müssen, ist die Idee entstanden, an dieser Stelle noch Musik zu spielen: den ersten Satz aus dem 8. Streichquartett in der Streichorchesterfassung mit Schostakowitschs Namenschiffre, den Tönen d-es-c-h. Das kann man als Kommentar zum Stück hören.

(Daniel Ender, DER STANDARD/Printausgabe, 20.10.2009)