Als das Verführen noch geholfen hat: Ein Soap-Star (Birgit Minichmayr) düpiert ihren Interviewer (Sebastian Blomberg).

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Birgit Minichmayr brilliert in der Aufführung des Zürcher Neumarkt-Theaters - in Kürze auch in Wien zu erleben.

Es ist dem für seine Grübeleien geschätzten Regisseur Martin Kušej gewiss nicht an der Wiege gesungen worden, dass er einmal ein stinknormales Boulevardstück inszenieren würde. Doch für wie "normal" darf ein Zwei-Personen-Kriegsstück gelten, das zwischen Mann und Frau spielt? In dem jeder Versuch der Verständigung zwischen den Geschlechtern in einen Ausbruch blanken Hasses mündet? Das Drehbuch von Das Interview – auf ihm basiert die heftig akklamierte Aufführung des Zürcher Neumarkt-Theaters – wurde von dem niederländischen Kinoregisseur Theo van Gogh verfilmt.

Van Gogh wurde 2004 von einem aufgebrachten Muslim niedergeschossen, der ihm hernach noch die Kehle durchschnitt. In Holland ein traumatisches Erlebnis für eine liberal erzogene Öffentlichkeit: Der Täter behauptete, der Künstler habe in dem Film Submission den Islam verunglimpft. Dabei entsprach es lediglich van Goghs Arbeitsweise, überkommene Ansichten zu hinterfragen – und überall dort hinzuschlagen, wo er ideologische Restposten vermutete.

Man könnte van Goghs Grundthese wie folgt zusammenfassen: Wer in unserer Gesellschaft öffentliche Präsenz entwickelt und den Mund aufmacht, von dem steht zu erwarten, dass er lügt. In Das Interview bildet die Lüge sogar die deklarierte Geschäftsgrundlage: Ein außenpolitischer Journalist (Sebastian Blomberg) wird von seiner Redaktion dazu verdonnert, einen Soap-Star (Birgit Minichmayr) in dessen Loft einzuvernehmen.

Es herrscht akute Empfindlichkeit auf beiden Seiten. Der Journalist, der lieber über den Rücktritt der niederländischen Regierung schreiben würde, fühlt sich und seine Arbeitskraft schnöde ausgebeutet. Frau Katja Schuurman wiederum glaubt, noch in den eigenen vier Wänden das Starlet mit den "scharfen Titten" abgeben zu müssen. Er bellt vor der Verabredung ins Handy: "Ich treffe eine plastifizierte Mumie! Ich soll zwei Titten interviewen!" Sie lässt ihn zuerst warten, um anschließend im viel zu kurzen Hängekleidchen als selbstbestimmte Frau powackelnd vor ihm zu posieren.

Beide setzen sich konsequent über alle Verabredungen hinweg. Minichmayr stakst in hohen Stiefeln über eine öde, leere Flokatiteppich-Landschaft (Bühne: Jessica Rockstroh). Blomberg stemmt sich im abgeschabten Regenmantel gegen ihre Ausstrahlung. Er sei also bloß die "Krankenvertretung", ätzt Minichmayr. Sie schürzt mokant den Mund, während er ihr einen Walkman aus dem Jahre Schnee unter die Nase hält.

Politik der Nadelstiche

Van Goghs Textgrundlage wurde von Stephan Lack übersetzt und für die Kušej-Inszenierung adaptiert. Die Gipfelkonferenz der beiden herrlichen Schauspieler mündet in Studien der wechselseitigen Quälerei: Aus lauter kleinen Nadelstichen werden hässlich klaffende Wunden. Man überbietet einander an "Aufrichtigkeit" : Das billige Starlet schuldet ihrem Quälgeist jenes Maß an Zuwendung, das seiner (angeblichen) intellektuellen Potenz entspricht.

Er wiederum lässt sich zu schamlosen Geständnissen hinreißen, die seine erotische Minderwertigkeit zum Ausdruck bringen sollen. Ehrlichkeit ist unter diesen Bedingungen nicht zu haben: Jede vertrauensbildende Maßnahme ist ein Aggressionsakt – ein weiterer Schritt hinein in totes Feindesland.

Kušej hält in diesem Nervenkrieg die ideale Mitte: Minichmayr und Blomberg entwickeln bei aller Boulevard-Getriebenheit einen sittlichen Ernst, der sie in Augenblicken auf die Hochplateaus der Klassik katapultiert. Man könnte sich sogar eine Phèdre von Racine denken, die diese raubtierkatzengleiche Behändigkeit aufweist. Und zugleich hallt der Lärm der altehrwürdigen Beziehungsschlachten nach: das knöcherne Gekeife bei Strindberg, der bellende Hohn von Edward Albee.

Mehr noch aber als in Steve Buscemis filmischer US-Adaption (mit Siena Miller und ihm) wird das Dilemma zweier Schmierentragöden sichtbar, die sich wie Zwiebeln häuten: Der mediale Zugriff auf die Seelen hat den Glauben an das Individuum ausgebrannt und restlos aufgezehrt.

Den Schlussgag dieser unbedingt sehenswerten Aufführung darf man nicht ohne weiteres verraten. Nur soviel: Die in Katja Schuurmanns Haus geparkte Handkamera wechselt mehrmals den Besitzer. Die Aufzeichnungen auf diversen Speichermedien (Tagebuch, Video-Kassette) werden wie Geschütze gegeneinander in Stellung gebracht. Der Star gewinnt – und bleibt doch absehbar zerstört in seiner Wohnwabe zurück. Man wünscht sich deren eilige Verbringung nach Wien. (Ronald Pohl aus Zürich, DER STANDARD/Printausgabe, 28./29.11.2009)

Aktualisierung: "Das Interview" mit Birgit Minichmayr läuft ab Donnerstag, 22.4., im Schauspielhaus Wien.