Wien - Kaum eine Autorin widersetzt sich den Gesetzmäßigkeiten des Theaters mehr als Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller. Ein Roman wie Herztier (1994) enthält zunächst die erschütternde Nachschrift einer Jugend, in Rumänien verbracht unter den entwürdigenden Bedingungen von Ceausescus Steinzeitkommunismus.

Müllers Buch, von Regisseurin Felicitas Brucker in eine Theaterschachtel verpflanzt, gibt eine schmerzliche Verlustanzeige auf: Vor den Nachstellungen durch den Geheimdienst Securitate konnte man sich nicht in Sicherheit bringen - außer man verließ, als "Schmarotzer" und "Asozialer" gedemütigt, als "Hure" gebrandmarkt, das Land.

Was das wunderbare Gastspiel des Berliner Maxim Gorki Theaters im Wiener Schauspielhaus noch stärker verdeutlicht: Jede Vergegenwärtigung des am eigenen - das heißt: an Müllers - Leib erfahrenen Unrechts stößt an eine natürliche Grenze. Schwerer noch als die permanente Gewaltandrohung wiegt der Verlust von Heimat und Sprache. Herta Müllers Texte sind daher Wiederaneignungsleistungen: Als Banater Schwäbin auf das Deutsche verwiesen, musste sie zugleich alle Annehmlichkeiten entbehren, auf die jedes Kind im Spracherwerb zurückgreift.

Ein Begriff wie "Herztier" , der die unzerstörbare Mitte des Menschen meint, ist eine Eigenleistung. Er ersetzt, wie viele andere Müller-Wörter, die Bausteine der Muttersprache, die man sich üblicherweise durch Kinderlieder, Märchen oder Spruchweisheiten aneignet. Diktaturen sind nicht einfach Repressionsmaschinen (das auch); sie zersetzen durch den permanenten Zugriff auf das kulturelle Gedächtnis die Grundlagen von Welt- und Lebensanschauungen.

Es ist daher kein Wunder, dass Maxim-Gorki-Theater-Schauspielerin Anja Schneider ebenso mitgenommen wie leise vergnügt, eine Haarsträhne im Gesicht, das Bühnen-Gefängnis erklettert: eine junge, patente, nicht weiter auffällige Frau im schwarzen Einteiler, die vor verschossenen Tapetenbahnen über ihre Jahrgangskollegin Lola zu erzählen beginnt.

Mit Lola als Gefährtin im Studentenwohnheim erlebte man den Tanz der Flöhe in den Kästen und Betten. Lola war anders. Ihr sah man die "armgebliebene Gegend" , aus der sie stammte, im Gesicht an. Lola wurde nacheinander Partei-Aspirantin, Nymphomanin, Gewaltopfer. Von ihrem Selbstmord durch Erhängen erzählt Schneider mit schwer erträglicher Sachlichkeit. Immer dann, wenn sie nicht weiter weiß, hebt sie eine der flatternden Tapetenbahnen hoch und liest Müllers verquere Poesie von nachgedunkelten Klebezetteln herunter.

Klug montierte Exzerpte

Die Kunstform Theater gelangt in diesen atemberaubenden 75 Minuten nicht über solide Zuträgerdienste hinaus. Immer öfter vertieft sich Schneider in die klug montierten Roman-Exzerpte: Niemals wird der Anspruch einer "Kunstleistung" erhoben. Die Erzählerin liest zwischen Hocker, Obstkübel und Megafon die Krümel eines kaputtgeschlagenen Lebens zusammen. Berichtet von ihrer verdämmernden Familie auf dem Land, von ihrer Widerstandsgruppe in der grauen Stadt, von Nachstellungen durch den allgegenwärtigen Sicherheitsapparat. Intimität wird durch einen riesigen Duschvorhang markiert, der die vierte Wand bildet.

Das Buch Herztier, das mit der Ausreise in den Westen schließt, ist das Protokoll einer Ortlosigkeit. Doch jedes Herztier braucht einen Ort, an dem es leben kann. Theater ersetzt nicht die Heimat. Doch es ist, wie dieser Gastspiel-Monolog beweist, ein mehr als tauglicher Unterstand. (Ronald Pohl/DER STANDARD, Printausgabe, 1. 2. 2010)