Es war Platon, der die Dichter aus dem Staat verbannt sehen wollte, weil sie, statt die Wahrheit zu schreiben, nur nachahmen. Schon sein Schüler Aristoteles sah das anders und erklärte die Nachahmung zum Grundprinzip von Dichtung. Bücher gab es zur Zeit der beiden Philosophen noch nicht. Bis Gutenberg den Buchdruck erfand, war das handschriftliche Kopieren nichts Anrüchiges, sondern eine geschätz-te Tätigkeit, die vornehmlich in Klöstern geübt wurde. Mit dem neuen Medium Buch, das mechanisch vervielfältigt werden konnte, änderte sich das. Im ausgehenden Mittelalter mussten die europäischen Fürstenhäuser die Existenz ihrer Verleger durch sogenannte Druckprivilegien sichern, weil der unkontrollierte Nachdruck rasch zum Massenphänomen geworden war. Verlagshäuser von Königs Gnaden durch ein Privileg zu schützen hieß: den Nachdruck prinzipiell zu akzeptieren. Das Privilegiensystem war Teil einer landesherrlichen Wirtschaftspolitik, die immer nur nationalen Schutz für die jeweils eigenen Druckerzeugnisse bot, während sie zugleich dazu ermunterte, Werke aus dem Ausland zu kopieren. Es ist überliefert, dass Maria Theresia ihren Hofverleger Johann Thomas Trattner aufforderte: "Er muß Nachdrücke unternehmen, bis Originalwerke zu Stande kommen. Drucke Er nach. Sonnenfels soll ihm sagen Was!"

In der Diskussion um die Nachahmungsgelüste der soeben volljährig gewordenen Autorin Helene Hegemann ist neben vielen persönlichen Angriffen auch der generelle Vorwurf erhoben worden, die Generation von Youtube und Google Books besitze keinen Respekt mehr vor geistigem Eigentum. Angesichts einer Milliarde illegaler Internet-Downloads im Monat hat diese Sichtweise Evidenz. Doch muss die Hysterie im ‚Fall‘ Hegemann aus juristischen und literaturhistorischen Gründen erstaunen. Zunächst einmal gibt es keinen Fall Hegemann. Der Ullstein-Verlag hat sich mit dem Blogger Airen, von dem Hegemanns Roman Axolotl Roadkill nicht unerheblich profitiert hat, geeinigt, bevor Gerichte eine Rolle spielen konnten. Sein eigenes Werk Strobo wird bei Ullstein als Taschenbuch erscheinen. Man könnte also dem Verlag zu dem Coup gratulieren, mit einem Text, dessen geistige Eigentumsrechte umstritten sind, gleich zwei eigentümliche Autoren im Markt platziert zu haben. Auf der einen Seite begegnet uns eine junge Popautorin, die sich in den Credits ihres Buches bei Maurice Blanchot, Kathy Acker und ihrem Vater bedankt (ab der zweiten Auflage auch bei Airen). Auf der anderen Seite erfahren wir im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Schattendasein eines Szenetypen, der bis auf seine Vorliebe für Ernst Jünger und Gottfried Benn nicht so viel preisgeben und anonym bleiben möchte.

Helene Hegemann ist des Diebstahls von geistigem Eigentum nicht angeklagt, also auch nicht für schuldig befunden worden. Eine ihrer beständig E-Mails schreibenden Hauptfiguren nennt sich mit Shakespeare Ophelia und geht doch ebenso wenig den Bach runter wie das Abendland und sein Urheberrecht mit Axolotl Roadkill. Die Hegemann-Debatte hat sich nicht unnötig in die Lektüre des Romans vertieft, sonst wäre einigen aufgefallen, wie offensiv er die Frage der Autorschaft thematisiert (",Es ist also nicht von Dir?‘ ,Nein. Von so 'nem Blogger.‘" ) Wird dabei die Idee des geistigen Eigentums literarisch fragwürdig, lässt sich diese Schreibweise mit der postmodernen Idee von Intertextualität theoretisch erklären und rechtfertigen. Am Zugriff des Urheberrechts ändert das nichts.

Literaturhistorisch muss in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, dass noch für Goethe die Vorstellung eines "geistigen" Eigentums des Autors so ungewohnt war, dass er sich darüber lustig machte. Wir denken heute beim Thema Urheberrecht automatisch an den Schutz von Autoren, an den die längste Zeit nicht gedacht wurde. Im 18.Jahrhundert trat die Aufklärung an, um aus den Hierarchien des absolutistischen Staates auszubrechen und den Persönlichkeitsrechten des Einzelnen auch ökonomisch Geltung zu verschaffen. Anstelle des Systems der Druckprivilegien, das nur die Verleger schützte, wurden die Interessen der Schriftsteller reklamiert, an deren Werkherrschaft sich das moderne Urheberrecht orientieren sollte. Das war leicht gesagt, aber schwierig zu begründen. Wie sollte sich der Geist des Autors als Träger seines Besitzanspruchs im Werk nachweisen lassen? Wie war die Verletzung des Anspruchs festzustellen? Um solche Fragen werden bis heute juristische Streitigkeiten ausgefochten.

Entscheidend für die Entstehung des modernen Urheberrechts war die Vorstellung vom künstlerischen Genie, die sich maßgeblich zwischen 1770 und 1795 herausgebildet hatte - zur gleichen Zeit wurde intensiv über den Nachdruck von Büchern gestritten. Genial zu sein hieß: rein aus sich selbst heraus zu schaffen. Das Genie sollte originell sein. Wenn es nachahmte, dann nur seine eigenen, ihm eigentümlichen Gefühle. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts wurde das Adjektiv "eigentümlich" ausschließlich besitzanzeigend gebraucht. Erst mit dem Genie entstand die Idee der Eigentümlichkeit im Sinne einer sozialen Identität. Sie war es, die Originalität aufseiten des Künstlers wie seines Werks bezeichnen und geistigen Besitz als das Eigentum des Eigentümlichen begründen konnte.

Der Geniekult der Goethezeit prägt die Vorstellung vom Künstler bis heute. Die avantgardistische Parole "Jeder ist ein Künstler" ist im radikalen Widerspruch zur Idee des Unnachahmlichen wieder originell. Nur deshalb sind wir in der TV-Gesellschaft überhaupt darauf aufmerksam geworden. Je mehr die Castingshows zum Geniestreich einladen, desto wacher wird der Wunsch, das Eigentümliche kennenzulernen. Dass wir niemandem außer uns selbst diese Rolle zubilligen und uns erfreuen, wenn ein vermeintliches Genie beim Klauen erwischt wird, gehört dazu.

Der Literaturbetrieb unterliegt den Gesetzen des "star search" . Die Diskussion um Hegemann hat das betont, um den Eindruck zu erwecken, früher sei das anders gewesen. Wie irrig diese Annahme ist, zeigen nicht zuletzt die mit der Rache der späten Geburt geschlagenen Nachfahren Goethes, die die Literaturgeschichte des 19.Jahrhunderts als "Epigonen" abgespeichert hat. Trost für uns: Wie bei jeder Epoche haben wir die meisten von ihnen vergessen, um einige wenige eigentümlich zu verehren, allen voran Gottfried Keller, den Star unter den Realisten, der dem "Los der Epigonen" ein Gedicht widmete und ansonsten die originelle Meinung vertrat, dass eine "Statistik des poetischen Stoffes" ohnehin zeigen werde, dass alles wirkliche Gute "von Anfang an schon da war und gebraucht wurde, sobald nur gedichtet und geschrieben wurde" . "Mit einem Worte" , so schrieb er einem Freund, "es gibt keine individuelle Originalität und Neuheit im Sinne der Willkürgenies und eingebildeten Subjektivisten". (Thomas Weitin, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 27./28.02.2010)