Christoph Ransmayr

Foto: Regine Hendrich

Odysseus, der Vielherumgetriebene, der Listenreiche, strandet in Christoph Ransmayrs Stück in einem Land, das er nicht mehr als das seine erkennt. Eigentlich will er seiner Heimat Frieden bringen, doch die Schlachtfelder, die Toten und Verkrüppelten, die er hinter sich zu lassen hoffte, holen ihn ein und setzen - wie in der antiken Tragödie - einen Mechanismus in Gang, der sich nicht mehr aufhalten lässt. Der Text Odysseus, Verbrecher (€ 12,40) ist soeben in einer schönen Ausgabe im S. Fischer Verlag erschienen.

Standard: Der Heimkehrer Odysseus merkt in Ihrem Stück, dass Frieden etwas anderes ist als die Abwesenheit von Krieg.

Ransmayr: Mein Heimkehrer schleppt den Krieg hinter sich her. Das Einzige, was er wirklich aus Troja nach Ithaka mitbringt, ist der Krieg.

Standard: Das Ithaka, das er verließ, gibt es nicht mehr.

Ransmayr: Ithaka, die Heimat, war auf allen Schlachtfeldern und allen Stationen seiner Heimkehr ein Sehnsuchtsbild, ein Traum, der schließlich mit der Wirklichkeit kollidiert. Aber was geschieht, wenn einer mit allen seinen Heimwehbildern endlich dort ankommt, wohin er sich Jahre und Jahre zurückgesehnt hat - und nichts mehr wiedererkennt? Je tiefer mein unseliger Odysseus nach allen Schlachten, allem Töten und allem Entsetzen in diese fremdgewordene Welt eindringt, desto überwältigender wird sein Hass auf sie. Und am Ende watet er gemeinsam mit seinem Sohn durch einen Strom von Blut.

Standard: Penelope weist ihn auf diese Kollision hin.

Ransmayr: Penelope steht in vielerlei Hinsicht für eine einigermaßen menschliche Welt. Ihre Bereitschaft, sich mit den Leuten zu arrangieren, die in meinem Stück "Reformer" heißen und sich während der Abwesenheit des Landesherrn am Reichtum Ithakas fettgefressen haben, hat nichts mit Sympathie oder Liebe zu tun, sie vermeidet dadurch bloß einen weiteren Krieg, den Bürgerkrieg. Sie zeigt mit ihrer Souveränität aber auch, dass der Herr, als der ihr Mann in den Krieg gezogen ist, dem Land nicht unter allen Umständen fehlt: Es geht auch ohne Herrn.

Standard: Odysseus hat im Stück wenig Heldenhaftes?

Ransmayr: Ich wollte wieder einmal daran erinnern, dass es trotz der Komplexität und Vielschichtigkeit des Odyssee-Stoffes im Hintergrund dieses Epos auch eine geradezu holzschnittartige Figur gibt: die des Kriegers, des Beutemachers, des Städteverwüsters, die alle Zeiten überdauert. Der Tod eines Bogenschützen, der auf einem antiken Schlachtfeld erschlagen wird, ist nicht weniger schrecklich als der Tod eines Infanteristen, den ein Panzer überrollt. Beide sind und bleiben für immer tot, beide bleiben damit aber auch gegenwärtig. Kriegshelden - und seien sie noch so strahlend und hochdekoriert - tragen immer den Totenkopf auf ihrem Banner oder auf ihren Kragenspiegeln. In meinem Ithaka ist der Totenkopf das Zeichen der Könige.

Standard: Odysseus, ein Kriegsverbrecher?

Ransmayr: Der Titel Odysseus, Verbrecher bezieht sich weniger auf den Kriegsverbrecher als vielmehr auf den Vater Odysseus. Das Wort kommt im Stück ein einziges Mal vor und zwar, als Penelope nach dem Massaker an den Reformern zum Vater ihres gemeinsamen Sohnes Telemach sagt: Odysseus, Verbrecher, du hast das Schlimmste getan, was ein Vater seinem Sohn antun kann, du hast ihn zu deinesgleichen gemacht.

Standard: Ein Held, denkt man sich im Verlauf des Stückes, ist eigentlich der, der bleibt und sein Land bebaut.

Ransmayr: ... bebaut und umgestaltet, bis - nach einem wunderbaren Wort von Ernst Bloch - etwas entsteht, "das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat" .

Standard: Man könnte fast Mitleid mit dem "Städteverwüster" haben.

Ransmayr: Odysseus trägt durch seine Bereitschaft, die Bilder seines Heimwehs für die Wirklichkeit zu halten, in einer tragischen Ausprägung Züge von uns allen. Auch uns erscheint ja das, was noch vor uns liegt oder woran wir uns selig erinnern, manchmal traumhaft schön - bis sich das Traumbild wie eine Folie von der Wirklichkeit abzulösen beginnt. Odysseus verlässt die Seinen ohne Rücksicht auf den Schmerz der Verlassenen, setzt aber voraus, dass die Zurückbleibenden, für wie viele Jahre auch immer, sich stets für ihn bereithalten und vor allem: sich bis zum Tag seiner Rückkehr nicht verändern. So nimmt er für sich alle Freiheit in Anspruch, während seine Lieben, ja die ganze von ihm verlassene Welt, zu Idealbildern erstarren.

Standard: Hat er eine Wahl?

Ransmayr: Natürlich. Er hat immer wieder die Wahl. Selbst Sachzwänge lassen noch einen Rest von Spielraum zu. Wenn Penelope ihrem Mann sagt, dass er sich für den Krieg entschieden habe, ja ihm sogar entgegengezogen sei, dann zeige das vor allem eines, nämlich dass ihn selbst die Liebe nicht zu halten vermöge. Odysseus hat sich für den Weg nach Troja und in die Schlacht entschieden, einen Weg, der sich rückblickend als Irrfahrt erweist. Selbst Ithaka wird ihm schließlich zur bloßen Station einer Irrfahrt, weil er dort erkennen muss, dass die Heimat, von der er träumte, nicht mehr existiert, vielleicht nie existiert hat. Und so bleibt ihm als einzige Hoffnung, noch einmal aufzubrechen, um eines Tages vielleicht tatsächlich aus einem utopischen Traumland in die Wirklichkeit zurückzukehren.

Standard: Die Hoffnung sind im Stück aber vor allem die Frauen.

Ransmayr: Für uns Männer ..., na ja, für die meisten von uns, sind die Frauen doch auf allen Ebenen unseres Lebens - in unserer Angst vor Verlassenheit und Tod, unserer Gier nach Lust, Leidenschaft, Liebe oder in unserer Sehnsucht, verstanden, getröstet, umarmt, ja vielleicht sogar gewiegt zu werden - die große und oft einzige Hoffnung.

(Stefan Gmünder, DER STANDARD/Printausgabe, 27./28.02.2010)