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Grandioses Zentrum eines sehr guten neuen Werkes: Marlis Petersen (als Medea) in Aribert Reimanns neuer Oper.

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Wien - Es ist nicht unbedingt so, dass der momentan pompös aus seinem Amt scheidende Ioan Holender jenes dickliche Buch, das er dreihundertfach Opernballbesuchern schenken ließ (um ihnen bilderreich von den Opernabenden seiner Ära zu erzählen), einstampfen und gänzlich neu auflegen muss. Es reicht, wenn nur die noch in den Handel zu bringenden anderen 300 Exemplare mit schönen Fotos dieser Medea-Uraufführung erscheinen.

Zweifellos aber ist diese Medea der bisher gelungenste Programmpunkt jener zurzeit (singend und sprechend) absolvierten Abschiedsorgie, die Holender der Öffentlichkeit zum Finale seiner Amtszeit angedeihen lässt. Und dies keinesfalls nur deshalb, weil das Erteilen eines Opernauftrags - im Gegensatz zum direktorialen Opernballgesang - zur Kernkompetenz eines Opernchefs gehört.

Vielmehr: Aribert Reimann ist ein kompaktes, schillerndes Werk gelungen, das unzweifelhaft Spuren jahrzehntelanger Musiktheatererfahrung in sich birgt. Daneben aber auch eine gehörige Portion Musikfeuer entfacht, das man manch reifem Spätwerk nicht unbedingt andichten möchte.

Vom ersten (Perkussives mit Bläsern mischenden) Takt an herrscht im Orchestergraben eine aufgeladene Atmosphäre mit zum zerreißen gespannten instrumentalen Nerven. Reimann hat zwar ungemein komplexe rhythmische und metrische Verschachtelungen ersonnen. Aus den strukturellen Fäden, Knäueln und Überlagerungen entsteht jedoch unmittelbar Wirksames. Also klangsinnliche orchestrale Psychogramme angstgebeutelter Figuren, deren innere Befindlichkeit sich als vielschichtiger philharmonischer Klang (großartig betreut von Michael Boder) materialisiert. Zuweilen wälzt sich die Musik gnadenlos wie Lava dahin. Andernorts wird sie durch schmerzvolle Streicher oder massige Bläsereinwürfe und archaische, rhythmische Ausuferungen dominiert. Immer steht sie jedoch elegant in psychologisch charakterisierender Beziehung zu den Figuren.

Etwas Zweisamkeit

Im Zentrum natürlich Medea: Reimann schenkt ihr zwar Momente des Friedvollen, wenn sie in Erinnerungen schwelgt. Und auch in den seltenen Augenblicken, da sich noch einmal so etwas wie Intimität zwischen ihr und ihrem sich langsam abwendenden Gatten Jason einstellt, hört man aus dem Orchestergraben flehende, adagiohafte Linien der Zuneigung. Und schließlich das Ende: Nach Medeas Feuerrache, die Jasons Gattin in spe, Kreusa, dahingerafft hat, und nachdem auch Medeas Kinder nicht mehr am Leben sind, herrscht in der finalen Szene nur noch resignative Klarheit der Klänge.

Bis dahin hört man indes auch aus dem instrumentalen Dickicht jede Zurückweisung, jede Demütigung, überhaupt jeden seelischen Schlag heraus, den Medea zu ertragen hat - als Musik von höchster Angespanntheit. Reimann hat dabei in Regisseur Marco Arturo Marelli einen sanft bebildernden Partner, der hier eine harte Gerölllandschaft entwirft, die schließlich frappante szenische und auch musikalische Verdichtungen produziert. Während nämlich der Raum für Medea immer enger wird, geht der hintere Teil der schrägen Geröllbühne langsam hoch. Und während Medea singt, rollen Steine plötzlich bedrohlich auf sie zu und verschmelzen auch akustisch mit der Musik zu einem klaustrophobischen Soundambiente. So wie Marelli die Sphäre der um Asyl ringenden Flüchtenden (Medea und Jason) durch die klare Trennung der Steinlandschaft von dem über ihr schwebenden Penthouse markiert (in dem Kreon und Kreusa logieren), so klar hat auch Reimann mit vokalen Mitteln charakterliche Unterschiede markiert.

Zwar sind jedem und jeder - nicht nur Medea (wobei für sie der schwerste Part reserviert ist) - zahllose Koloraturen auf den Leib geschrieben worden. Allein, wüsste man nicht, wer wer ist auf der Bühne, man würde dennoch die glissandoseligen Linien der unbeschwert-verspielten Kreusa (glänzend Michaela Seliger) zuordnen. Und unschwer würde man jenes mitunter in Stottergesang mündende Parlando dem König Kreon (profund Michael Roider) attestieren.

Wie auch zweifelsfrei die bisweilen eitel sich aufschwingenden Gesänge vor allem zu Jason (souveräne vokale und szenische Gestaltung durch Adrian Eröd) passen, der opportunistisch die Seite wechselt und an seiner Integration in die eine hohe Stellung versprechende Gesellschaft anbahnt.

Figur ohne Ruhe

Am klarsten jedoch ließen sich die exaltiertesten Gesänge des Werkes zuordnen. Medea (souverän an ihrer Seite Elisabeth Kulman als Gora) wird von Reimann koloraturmäßig grandios belebt, die Linien sind heikel und geben der Figur kaum Ruhe, wodurch Reimanns Ideen auch szenische Kraft erlangen, indem sie die Figur auch gestisch prägen. Die Regie muss nur noch wenig zuarbeiten. Marlis Petersen hingegen hat eine konditionelle, vokale und gestalterische Leistung auf phänomenalem Niveau zu leisten.

Und bei ihrem Marathon der Demütigungen stimmt alles: Das Versonnene, das Exaltierte - alles kommt mit vokaler Sicherheit, Flexibilität und Eindringlichkeit über die Rampe und mündet schließlich in illusionsloser Akzeptanz der womöglich nahenden Strafe in Delphi. Grandios.

Medea/Holender ist also eine höchst erfolgreiche Liaison geworden. Sie möge nun zu einer Medea/Meyer-Beziehung werden. Der kommende Direktor sollte dies Werk ins Repertoire überführen. Anscheinend ist es leichter, dem über die Jahre kaum zur Offenheit ermunterten Staatsopernpublikum ein neues Werk zu servieren (schöner Applaus, nur ein lächerliches Buh), als eine anspruchsvolle Regieversion eines sattsam bekannten Werkes.

Aber das ist eine ganz andere Holender-Geschichte. (Ljubiša Tošić, DER STANDARD/Printausgabe, 02.03.2010)